Todes Kuss
kleine Alexander gerade erst drei Jahre alt war, teilte Annes Ehemann mir mit, ich solle Ashton Hall noch einige Jahre lang als mein Zuhause betrachten. Tatsächlich war ich noch nie dort gewesen. Dennoch entschied ich mich, in London zu bleiben, um dort ein absolut ereignisloses Leben zu führen, so wie man es von einer Witwe erwartete.
Es war Philips Freund Colin Hargreaves, der mich aus meiner Langeweile erlöste.
An jenem warmen Sommernachmittag hatte ich mich in Philips mit Walnussholz getäfelte Bibliothek zurückgezogen, um zu lesen. Der Raum war, wie auch alle anderen im Haus, geschmackvoll eingerichtet. Hier gab es wertvolle Teppiche, die in der Axminster-Technik hergestellt worden waren, und glänzend polierte, erstaunlich bequeme Möbel.
Davis, mein Butler, hatte den Besucher kaum gemeldet, als dieser auch schon eintrat, meine Hand an die Lippen zog und einen Kuss daraufhauchte. „Es ist ein seltsames Gefühl, ohne Philip hier zu sein“, stellte er fest. „Wir haben all unsere Reisen in diesem Raum geplant.“ Hargreaves nahm auf einem der ledergepolsterten Stühle Platz. „Verzeihen Sie, Lady Ashton. Ich sollte nicht von Dingen sprechen, die Ihnen Kummer bereiten.“
In diesem Moment fühlte ich mich sehr unbehaglich, denn zweifellos trauerte er viel mehr um meinen verstorbenen Mann als ich selbst.
„Darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten?“, fragte ich und griff nach der Klingelschnur.
„Bitte, bemühen Sie sich nicht. Ich bin aus geschäftlichen Gründen hier.“
„Dann sollte ich vielleicht nach meinem Advokaten schicken.“
„Von ihm komme ich gerade. Sie wissen natürlich, wie sehr Philip Griechenland und die Ägäis liebte?“
„Griechenland?“, wiederholte ich leicht verwirrt.
„Er hat mehrere Monate im Jahr dort verbracht. Und als er in Afrika erkrankte …“
„Bitte, fahren Sie fort!“
„Es lag ihm viel daran, Ihnen seine Villa auf Santorin zu zeigen.“
„Santorin?“ Ich konnte mich schwach daran erinnern, dass der Anwalt ein Haus auf einer der griechischen Inseln erwähnte, als er auflistete, was ich alles geerbt hatte. Doch da er angenommen hatte, ich sei von Trauer überwältigt, hatte er sich sehr kurz gefasst.
„Philip hat die Villa erst vor einigen Jahren gekauft und sie testamentarisch Ihnen vermacht. Es wird Ihnen dort gefallen, denke ich. Ihr Gemahl jedenfalls war davon überzeugt. Nach der Rückkehr aus Afrika wollte er Sie mit der Reise nach Santorin überraschen.“ Erneut machte Hargreaves eine Pause. „Als er krank wurde, sagte er mehr als einmal zu mir: ‚Kallista muss die Villa kennenlernen‘. Schließlich versprach ich ihm, alle nötigen Reisevorbereitungen zu erledigen.“
„Und wer ist Kallista?“, fragte ich.
Er lächelte. „So hat er Sie doch genannt.“
Erstaunt hob ich die Augenbrauen. Philip hatte mich meist in leicht ironischem Ton als Lady Ashton und gelegentlich zärtlich als Emily oder Darling angesprochen. „Er hat mich nie Kallista genannt.“
„Aber er sprach von Ihnen meistens als Kallista.“
„Tatsächlich?“, murmelte ich.
„Ich würde vorschlagen, dass Sie die Reise nach Santorin im Frühjahr unternehmen. Die Mittelmeerküste ist dann wunderschön.“ Er erhob sich und deutete eine Verbeugung an. „Bitte vergeben Sie mir, dass ich den Kosenamen gebraucht habe, den Philip Ihnen gegeben hat.“
Ich betrachtete ihn mit einem kleinen Lächeln. Er war wirklich ein gut aussehender Mann. „Wenn wir uns erst besser kennen, dürfen Sie mich gern Kallista nennen.“
„Sie sind hinreißend, genau wie Philip Sie geschildert hat.“ Noch einmal hauchte er einen Kuss auf meinen Handrücken. „Ich muss mich verabschieden. Bitte, teilen Sie mir mit, wann Sie die Reise nach Santorin antreten möchten.“ Damit wandte er sich zur Tür.
Vom Fenster aus beobachtete ich, wie er den Berkeley Square überquerte. Sein Besuch hatte mich aufgewühlt. Einerseits war es stets unangenehm für mich, mit Menschen zusammen zu sein, die wirklich um meinen verstorbenen Mann trauerten. Andererseits war das, was Colin Hargreaves über Philips Gefühle mir gegenüber angedeutet hatte, eine echte Überraschung für mich. Und warum hatte ich nichts vom Interesse meines Gemahls an Griechenland gewusst?
Es war Davis, der mich aus meinen Gedanken riss. „Ihre Eltern erwarten Sie im Salon, Lady Ashton“, sagte er.
Wie üblich begrüßte meine Mutter mich mit einem Vorwurf. „Du musst wirklich darauf achten, Emily, dass die Vorhänge
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