Todes Kuss
Tagebuch verriet – mich sehr geliebt hatte. Dabei hatte ich ihm doch nie viel Interesse entgegengebracht. War es denkbar, dass Männer gerade die Frauen besonders aufregend fanden, die ihnen keine Aufmerksamkeit schenkten?
Nun, Andrew würde über die Enttäuschung bald hinwegkommen. Er war amüsant, aber oberflächlich. Außerdem brauchte er Geld. Vielleicht wollte er weniger mich als mein Vermögen heiraten. Sollte er in ein paar Monaten seine Verlobung mit der Tochter eines amerikanischen Eisenbahnbarons bekannt geben, es würde mich keinesfalls verwundern. Ein Lächeln huschte über mein Gesicht. Ja, eine reiche Amerikanerin wäre genau das Richtige für Andrew. Ich würde Margaret fragen, ob sie eine junge Dame kannte, die als Ehefrau für ihn in Frage kam.
Tags darauf betrat ein weiterer Gentleman meine Bibliothek. Diesmal würde ich allerdings keinen Antrag ablehnen müssen. Der Besucher war nämlich niemand anderes als Colin Hargreaves.
„Wo waren Sie nur während der letzten Tage?“, fragte er. „Ich habe mehrmals vergeblich vorgesprochen.“
Ungläubig schüttelte ich den Kopf.
„Vielleicht hätte ich Ihnen im Hyde Park auflauern sollen. Wenn ich Ihnen dann in vollem Galopp gefolgt wäre, hätte ich Sie vielleicht erwischt.“
Die Vorstellung gefiel mir, doch ich sagte nur: „Ich reite zwar gern aus, lasse mein Pferd aber nur selten galoppieren.“
„Ich hoffe, Sie waren nicht dauernd mit Andrew Palmer zusammen.“
Das war nun ein Thema, über das ich gar nicht zu sprechen wünschte. „Die meiste Zeit habe ich wahrscheinlich mit meinem Griechischlehrer verbracht“, antwortete ich.
„Dann brauchen Sie das womöglich gar nicht mehr.“ Er hielt mir ein Päckchen hin.
„Ein Geschenk?“ Seltsam, ich hatte keinerlei Bedenken, etwas von ihm anzunehmen. Doch wie sich herausstellte, handelte es sich sowieso nur um ein altes Buch.
„Meine griechische Schulgrammatik“, erklärte Colin. „Sie hat mir gute Dienste geleistet. Und ich dachte, nun könnte das Büchlein vielleicht Ihnen helfen.“
„Das ist wirklich aufmerksam von Ihnen.“ Ich schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. „Danke!“
„Es tut gut, hin und wieder eine Frau zu treffen, die entschlossen ist, ihren Horizont zu erweitern. Deshalb halte ich es für meine moralische Pflicht, Sie in Ihrem Ehrgeiz zu unterstützen, Emily.“
„O Gott, ich bin nicht sicher, ob mir das gefällt! Ich hoffe sehr, dass sie mich nicht als lästige Pflicht betrachten!“
Er begann herzhaft zu lassen. „Ich wusste doch, dass Sie die Ironie in meinen Worten nicht überhören würden.“
Ich hob die Brauen. „Vermutlich haben Sie in Paris aus eben diesem Pflichtgefühl heraus mit mir getanzt.“
„So war es.“ Er seufzte. „Und ich betrachte diese Pflicht noch nicht als erledigt. Wollen wir tanzen, Emily?“
„Ich möchte meinen Butler nicht schon wieder schockieren. Vermutlich kostet es ihn immer noch einiges an Überwindung, mir Portwein zu servieren.“
„Es ist wunderbar unkompliziert, mit Ihnen zusammen zu sein“, sagte Colin, der plötzlich ernst wurde. „Ich freue mich, dass Sie sich so gut in die Rolle der Hausherrin eingefunden haben und dass Sie die Bibliothek zu Ihrem eigenen Zimmer gemacht haben. Philip würde sich wundern.“
„Warum?“
„Weil er, wie ich annehme, nicht wusste, wie klug seine Braut war und wie weit gefächert ihre Interessen.“
„Damals war ich leider noch ziemlich oberflächlich.“ Einen Moment lang trafen sich unsere Blicke. „Wissen Sie, Colin, Philip und ich haben während unserer kurzen Ehe nur selten ein tiefer gehendes Gespräch geführt. Nun stelle ich mir manchmal vor, wie wir, wenn er nur länger gelebt hätte, über Homer und Praxiteles, über antike Vasen und griechische Statuen diskutiert hätten. Doch insgeheim fürchte ich, dass es nie dazu gekommen wäre. Vermutlich hätte ich gar kein Interesse an der Antike entwickelt.“
„Das mag wohl sein. Sie hätten als Philips Gemahlin viele andere Aufgaben gehabt. Und wenn Sie erst einmal Mutter geworden wären, hätten Sie wohl kaum die Zeit gefunden, irgendwelche Vorträge am University College zu hören.“
„Was Philip wahrscheinlich ganz recht gewesen wäre“, murmelte ich.
„Es stimmt, dass viele Männer keinen Wert auf eine weltoffene gebildete Frau legen. Sie suchen eine Braut, die schön ist und ganz in der Erfüllung ihrer hausfraulichen und gesellschaftlichen Pflichten aufgeht. Ich selbst allerdings hege die
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