Todesacker
Ehrfurcht und Respekt, die traditionsgemäß der Weisen entgegengebracht wurden, der Heilerin, der Witwe, die man heimlich in der Dämmerung besuchte, um sie um Rat zu fragen oder um eine spezielle Kräutermischung zu bitten. Sie ist ein bisschen hellsichtig . Dem Übernatürlichen zugewandt – das war seiner Ansicht nach die am besten zutreffende Übersetzung. In Kontakt mit den Feen vielleicht. Mit wahrsagerischen oder hellseherischen Fähigkeiten gesegnet, wenn man es wohlwollend formulieren wollte. Doch Cooper hatte den Verdacht, dass das Wort noch eine andere Bedeutung hatte.
»Und was ist mit Alan?«
Sutton verstummte plötzlich. Die Tränen, die ihm seit seiner Ankunft auf der Farm in die Augen zu schießen drohten, rannen ihm jetzt über die Wangen. Cooper bereute sofort, so unverblümt gefragt zu haben. Und er betete, dass er in seinem Leben niemals an den Punkt gelangen würde, wo man ihn so leicht zum Weinen bringen konnte.
»Alan ist auch schon lange weg«, sagte Sutton.
»Was ist denn mit ihm geschehen, Mr Sutton?«
»Er ist gegangen. Er hat es nicht mehr ausgehalten, hier zu leben.«
»Wo ist er jetzt?«
Sutton stieß einen langen, ungleichmäßigen Seufzer aus. »Das weiß ich nicht. Alan ist weg, Derek ist weg, die Farm ist weg. Was spielt da noch eine Rolle?«
Fry stellte sich neben seinen Rollstuhl. »Ist Alan noch am Leben?«, fragte sie.
Sutton wandte sich ab, um sie nicht ansehen zu müssen. »Wir haben seit Jahren nichts mehr von ihm gehört. Das müssen jetzt mindestens acht Jahre sein.«
Fry warf Cooper einen Blick zu, und er wusste, was sie dachte. Eine ausweichende Antwort.
Doch sie ließen Sutton und seine Pfleger gehen, die ihm für die Rückfahrt zum Oaks-Pflegeheim in den Kleinbus halfen.
»Ist dir an Raymond Suttons Verhalten irgendetwas aufgefallen?«, fragte Fry, nachdem der Kleinbus losgefahren war. »Abgesehen davon, dass er einer direkten Frage ausgewichen ist, meine ich.«
»Oh, was denn?«, sagte Cooper.
»Uns gegenüber hat er sich anständig benommen – na ja, auf seine Art und Weise. Aber auf die Uniformierten hat er ganz schlecht reagiert.«
»Ja, das ist mir auch aufgefallen.«
»Interessant.«
»Was denkst du, Diane?«
»Ich denke, dass ich Mr Sutton gerne gefragt hätte, welche Erinnerungen er an Police Constable David Palfreyman hat. Und vor allem, warum es ihn so beunruhigt, wenn er eine Polizeiuniform auf seiner Farm sieht.«
Plötzlich entstand auf der Rückseite des Farmhauses Unruhe. Laute Stimmen waren zu hören, irgendjemand lief stampfend durch den Matsch, eine Tür wurde zugeschlagen, weitere Stimmen ertönten.
»Was, zum Teufel, ist da los?«, rief Fry einem Mitarbeiter der Spurensicherung zu, der an der Ecke des Hauses stand.
»Jemand hat die äußere Absperrung übertreten. Sieht so aus, als wäre er in dem alten Wohnwagen geschnappt worden.«
»Interessant«, sagte Fry. »Lass uns mal nachsehen, was da vor sich geht.«
Als sie und Cooper sich den Weg zu dem heruntergekommenen Wohnwagen gebahnt hatten, sahen sie, dass zwei uniformierte Polizisten dem Verdächtigen Handschellen angelegt und ihn auf die Rückbank eines Streifenwagens gesetzt hatten. Einer der Polizisten war bei der Verfolgung ausgerutscht und versuchte vergeblich, sich den Schlamm von der Hose zu wischen.
Fry ging auf den Wagen zu.
»Siehst du auch, wen ich sehe, Ben?«
»Ja, einen alten Freund von uns.«
Fry öffnete die Wagentür. »Was machen Sie denn hier... schon wieder?«
Jamie Ward blickte aus dem Auto zu ihr auf. Er war wieder der verängstigte Junge, zerzaust und blass im Gesicht. Derselbe junge Arbeiter, den sie am ersten Tag auf der Farm kennengelernt hatte, nachdem er die sterblichen Überreste ausgegraben hatte.
»Ich habe nichts Schlimmes gemacht«, murmelte er. »Das habe ich denen schon gesagt, aber die wollten mir nicht zuhören.«
»Jamie, Sie sollten überhaupt nicht hier sein. Das ist der Tatort eines Verbrechens.«
»Tut mir leid.«
»Was haben Sie denn in dem Wohnwagen gemacht?«, fragte Fry. »Haben Sie nach etwas Bestimmten gesucht, Jamie?«
»Nein.«
Fry schüttelte den Kopf. »Lügen Sie mich nicht an. Das mag ich nicht.«
Jamie drehte sich weg. »Ich kann es Ihnen nicht sagen. Ich möchte nicht in Schwierigkeiten geraten.«
»Sie sind bereits in Schwierigkeiten.« Fry wandte sich an den schlammverschmierten Polizisten. »Ist er durchsucht worden?«
»Ja, Sergeant. Er hatte nichts bei sich außer ein paar persönlichen
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