Todesacker
wissen Sie.« Er tat so, als würde er mit einem kleinen spitzen Gegenstand auf seinem Handrücken kratzen.
»Sie hat ihre Initialen in ihre Habseligkeiten eingeritzt?«
»Ja.«
Fry nahm den Beutel und drehte ihn um. Sie hielt ihn ins Licht und betrachtete mit zusammengekniffenen Augen die Rückseite des Kruzifixes. Das Metall hatte sich verfärbt und blätterte ab. Doch in der Mitte, wo die beiden Balken des Kreuzes aufeinandertrafen, sah sie das Glitzern der Kratzspuren.
»N. H.«
»Nadezda Halak. Das ist meine Schwester.«
Das Foto, das Halak bei sich hatte, zeigte eine junge Frau mit schulterlangem dunkelbraunem Haar, das sie nach hinten gekämmt und zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte. Sie hatte warme braune Augen und apart geschwungene Augenbrauen.
Als hübsch war sie jedoch nicht unbedingt zu bezeichnen. Ihre Haut wirkte etwas fahl, und auf ihren Wangen waren leichte Flecken zu erkennen, die von irgendeiner früheren Erkrankung herrühren mochten. Und Fry dachte, dass Nadezdas Kiefer vermutlich breit genug gewesen war, um den Anthropologen zu verwirren, wenn das sein einziger Anhaltspunkt gewesen wäre. Nadezda war mit einer weißen Nylonjacke bekleidet, deren geöffneter Reißverschluss verriet, dass sie darunter ein T-Shirt trug. Sie lächelte, zeigte dabei allerdings nicht ihre Zähne.
»Sie war in der Slowakei sehr unglücklich«, sagte Halak. »Sie war arm – wir waren alle arm. Aber Nadezda hatte keine Hoffnung, Arbeit zu finden. Sie hat ferngesehen und immer gesagt, dass sie nach England oder in die USA gehen möchte. Sie war verheiratet, aber ihr Mann hat sie sehr schlecht behandelt. Er hat sie geschlagen und ihr sehr wehgetan. Sie hat gesagt, dass sie schon irgendeinen Weg finden würde, um an Geld zu kommen, und dass sie nach England gehen würde, um dort zu arbeiten. Und das hat sie dann auch getan.«
Fry beobachtete seinen Gesichtsausdruck, als er sagte »irgendeinen Weg«. Sie wusste, dass viele junge Frauen aus Osteuropa mit großen Erwartungen nach Großbritannien aufbrachen, nur um nach ihrer Ankunft am Flughafen als menschliche Ware mehr oder weniger in die Sklaverei verkauft zu werden.
»Sir, ich muss Ihnen diese Frage stellen«, sagte Fry. »War Ihre Schwester eine Prostituierte?«
Halak machte ein gequältes Gesicht.
»Nein, nein. Sie hat gearbeitet, ehrlich gearbeitet. Sie ist hierhergekommen, um Geld zu verdienen. Eine Prostituierte? Nein, niemals.«
Bevor Mikulas Halak das Revier verließ, bat ihn Fry, sich mit einem Abstrich im Mundraum einverstanden zu erklären. Mit einer DNA-Probe würde das Labor bestimmen können, ob er tatsächlich mit Opfer A verwandt war, und wenn ja, wie eng.
Offenbar war die Identität des ersten Leichnams endlich geklärt, sodass die Tote nicht mehr nur Opfer A war. Jetzt hatte sie einen Namen: Nadezda Halak, dreiundzwanzig, slowakische Staatsbürgerin aus der Stadt Košice. Ihrem Bruder zufolge war sie etwa einen Meter sechzig groß gewesen. Sie hatte eine zierliche Statur und dunkelbraunes Haar gehabt.
Ein Teil dieser Haare war alles, was außer unvollständigen Fingerabdrücken von ihrer abgelösten Haut noch von ihr übrig war. Und ihre unerklärlich schlechten Zähne natürlich.
Fry informierte den Detective Inspector und bekam das Lob, das sie sich erhofft hatte. Doch ihr war bewusst, dass sie damit nicht den Fokus von dem Mord an Tom Farnham weglenken konnte, der momentan die ganze Aufmerksamkeit ihrer Vorgesetzten in Anspruch nahm.
Für Mikulas war in Edendale eine Unterkunft gefunden worden, und er versprach, zur Verfügung zu stehen, wenn er gebraucht wurde. Fry sicherte ihm zu, ihn auf dem Laufenden zu halten, und wollte dieses Versprechen auch einhalten.
»Ich hoffe, dass er nicht das Weite sucht oder sonst irgendwas Dummes macht«, sagte sie, nachdem er gegangen war.
»Er scheint nicht der Typ dazu zu sein, oder?«, erwiderte Cooper.
»Wenn er sich Sorgen wegen seines eigenen Status in diesem Land macht, wird er womöglich wieder verschwinden. Schließlich hat er das erreicht, weswegen er hergekommen ist, und hat herausgefunden, was mit seiner Schwester passiert ist.«
»Ich glaube, er hat ein Interesse daran, uns zu helfen, um seiner Schwester Gerechtigkeit zu verschaffen«, sagte Cooper. »Meinst du nicht, Diane?«
»Doch, aber ich wette, gefälschte Papiere können einen ganz schön belasten, wenn man mit der Polizei zu tun hat.«
»Falls sie tatsächlich gefälscht sind.«
Cooper war überzeugt davon, dass
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