Todesakt: Thriller (German Edition)
trügerische Gefühl, in Lilys Zimmer unbeobachtet zu sein.
Harry stellte sich neben sie ans Fenster. Seine Stimme war so leise, dass sie ihn kaum verstand.
»Mein Dad hat mir erzählt, dass David Gamble Ihr Bruder war.« Wieder zögerte er, sprach aber dann entschlossen weiter. »Und Mr Paladino sagt, Sie hätten ihm letztes Jahr bei einem Problem geholfen und wären in Ordnung.«
Lenas Bruder war Gitarrist gewesen und kurz nach einem Konzert seiner Band in einem Nachtclub am Strip ermordet worden. Das Verbrechen war zwar inzwischen schon acht Jahre her, doch es war wie ein Schatten, der Tag für Tag seine Größe veränderte, allerdings nie völlig verschwand.
»Ich bin auf Ihrer Seite, Harry. Wirklich.«
Harry setzte sich aufs Bett. Als ihm Tränen in die Augen traten, schlug er die Hände vors Gesicht.
Lena rollte sich den Schreibtischstuhl heran und nahm ebenfalls Platz.
»Erzählen Sie mir, warum Jake letzte Nacht im Club 3 AM war. Was wollte Ihr Bruder von Johnny Bosco?«
Diesmal rannte Harry bei dieser Frage nicht aus dem Zimmer, sondern wischte sich die Tränen von den Wangen. Er schien zu überlegen, wie er sich ausdrücken sollte.
»Bosco hat ihm geholfen«, erwiderte er.
»Wobei geholfen?«
»Den Kerl zu finden, der Lily tatsächlich umgebracht hat. Jake hat mir gesagt, etwas sei passiert und er müsse mit Johnny reden. Sie glaubten zu wissen, wer es war, und haben gehofft, es letzte Nacht beweisen zu können.«
Eine Sekunde surrte vorbei wie eine verirrte Kugel.
Lena blickte sich im Zimmer um. Die Gewaltszenen darstellenden Skizzen und Bilder aus der Hand von Jacob Gant nahm sie kaum wahr. Sie sah nur die Straße. Der Weg, der ihr noch vor wenigen Minuten so klar vorgezeichnet erschienen war, löste sich nun auf wie eine Fata Morgana. Sie beugte sich vor und bemühte sich um einen ruhigen Tonfall.
»Ihr Bruder hat den Mord an Lily Hight untersucht?«
Harry nickte.
»Warum Bosco?«
Er zuckte die Achseln.
»Keine Ahnung.«
»Was hat Ihr Bruder Ihnen anvertraut?«
»Gar nichts. Er fand es zu gefährlich.«
»Was ist mit Paladino?«
»Jake hat mit niemandem drüber geredet. Nur mit Johnny Bosco. Er wusste nämlich, wie es wirken würde.«
»Wie würde es denn wirken?«
Harry ließ sich rücklings aufs Bett fallen, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schloss die Augen.
»Er sagte, dass niemand ihm glauben würde, und zwar wegen der DNA. Falls jemand erfahren sollte, was er da treibt, belaste ihn das nur noch mehr, weil so ein Verhalten eben typisch für einen Verbrecher sei. So wie die Spinner in der Glotze. Erst bringen sie ihre Frau um, und dann tun sie so, als würden sie den wahren Täter suchen. Das ist zwar nur Theater, aber die Leute im Fernsehen sind so doof, dass sie es ihnen abkaufen, weil sie selber solche Loser sind.«
Ein angespanntes Schweigen entstand.
»Ihr Bruder hatte Blutergüsse an Hals und Armen«, sagte Lena. »Und seine Fingerknöchel waren aufgeschürft wie nach einer Prügelei.«
Harry öffnete die Augen und sah sie an.
»Er hat sich oft geprügelt.«
»Mit wem?«
Der Jugendliche zuckte die Achseln.
»Mr Paladino hat ihn zwar aus dem Gefängnis geholt, aber das heißt noch lange nicht, dass ihm außer den Geschworenen jemand geglaubt hat. Ganz egal, wo Jake auch hinging, ständig wurde er angebrüllt oder jemand hat versucht, ihm eine zu verpassen. Er wollte rauskriegen, wer Lily umgebracht hat, aber es steckte noch viel mehr dahinter. Jake musste den Typen einfach finden. Er sagte, wenn es jetzt klappt, geht er in Mr Paladinos Kanzlei und zeigt ihm alles. Und wenn sie dann den richtigen Täter hätten, würde der Mist endlich aufhören, und wir hätten keine Probleme mehr.«
»Was ist mit Lilys Vater? Du hast erzählt, sie hätten sich gestritten. Sind sie jemals gewalttätig geworden?«
Harry drehte sich zur Seite und sah Lena an.
»Ich glaube nicht. Allerdings hatte ich immer den Verdacht, dass er Lily umgebracht hat. Der Typ tickt nicht ganz sauber. Er hat eine Menge Probleme.«
Während Lena zuhörte, betrachtete sie den Teppich am Fenster mit den Abdrücken eines Lesesessels, der verschoben worden war – so wie bei Lily Hight. Jacob Gants Sessel stand nun neben dem Schreibtisch.
Lena stand auf und schob ihn über den Teppich. Nun zeigte der Sessel zum Bett, getaucht in das weiche Licht, das durch das Fenster hereinströmte. Doch als sie den Teppich wieder in Augenschein nahm, passten die Sesselbeine nicht zu den Abdrücken.
»Jake
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