Todesbraut
leuchteten in verlockendem Rot. Pflaumen? Sie stieg auf eine Mauer, angelte nach dem Obst, bekam eines zu fassen und biss hinein. Ekelerregende Säure zog ihr augenblicklich den Mund zusammen, sie spuckte aus und warf den Rest des ungenießbaren Zeugs in das Gestrüpp dahinter. War sie völlig übergeschnappt? Aß mitten in einer Millionenmetropole unbekannte Gewächse vom Baum, als würde sie durch den Urwald irren.
Sie versuchte sich an die Strecke zu erinnern, die sie gestern mit dem Jeep gekommen waren. Da hatte es auch kleine Läden gegeben, oder nicht? Wencke quälte sich vorwärts. Jetzt nicht aufgeben, redete sie sich selbst ins Gewissen. Verdammt noch mal, du hast jetzt schon so viel durchgemacht und hältst dich noch immer wacker – wenn du jetzt zusammenklappst, dann war das alles umsonst. Und Emil wird denken, seine Mutter hat ihn im Stich gelassen, hat nicht lange genug durchgehalten, war zu schwach.
Die nächste Querstraße hatte schon etwas mehr Ähnlichkeit mit der Zivilisation. Ein Hoftor war halb geöffnet, dahinter stapelten sich Lebensmittelkartons, vielleicht war dies die Rückseite eines Supermarktes. Diese Hoffnung ließ sie schneller vorankommen, weit hinten entdeckte sie einen Mann, der aufdem Balkon seines Hauses eine Zigarette rauchte. Fast rannte sie. An der nächsten Ecke hatte das Leben sie wieder: Eine Boutique, ein Seifenladen, daneben tatsächlich Lebensmittel. Gemüse und Obst stapelte sich in den aufgestellten Holztischen, drei Kinder standen neben einer Eistruhe und tranken Cola aus Dosen. Sie schauten Wencke mit entsetzten Augen an, wahrscheinlich sah sie wie eine Bettlerin aus. Das Mädchen kam auf sie zu, es war ungefähr zehn und zeigte keine Spur von Ängstlichkeit oder Scheu, als sie Wencke ansprach.
»Ich kann dich leider nicht verstehen«, bedauerte Wencke und ihre Stimme klang, als hätte sie einen Eimer Rost gefressen.
»Sind Sie deutsch?«, fragte das Mädchen dann.
Wencke konnte ihr Glück kaum fassen. »Ja, das bin ich. Und du?«
»Ich bin Berivan. Komme aus Asbeck.«
Wencke hatte keine Ahnung, wo dieses Asbeck lag, aber sie freute sich wie verrückt darüber, dass diese Berivan dort lebte.
»Wir sind hier nur zu Besuch bei meiner Tante.« Das Mädchen zeigte ins Ladeninnere, wo eine dünne Frau damit beschäftigt war, Kuchenteilchen zu verpacken. »Wegen
Bayram
, Zuckerfest.«
»Ich bin Wencke aus Hannover.«
»Sie sehen sehr schlecht aus.« Das Mädchen nahm kein Blatt vor den Mund. »Soll meine Tante Ihnen etwas zu essen geben? Das gehört zu unserem Fest dazu, man muss den Armen Geschenke machen!« Ohne eine Antwort abzuwarten, hüpfte das Mädchen in den Laden, wechselte ein paar türkische Worte mit ihrer Tante, suchte in den Regalen und kam mit einem weißen Brötchen, einer Banane und einem Teller mit rosaroten, geleeartigen Stückchen heraus. »Bitte schön!«
»Das ist sehr lieb von dir!« Wencke setzte sich auf eine Mauer, griff zu und versuchte, nicht zu gierig zu wirken, als sie das Brötchen und die Banane verschlang. Die Uhr am Taxistandgegenüber zeigte, dass es schon halb zwölf war. Nur noch anderthalb Stunden …
»Willst du einen Tee?«
Wencke wischte sich die Krümel aus den Mundwinkeln. »Ich habe leider überhaupt keine Zeit. Ich muss so schnell wie möglich zur Blauen Moschee!«
»Warum?«
»Ich suche meinen Sohn und hoffe, ihn dort zu finden. Es ist sehr dringend …«
»Ist etwas passiert?«
»Noch nicht. Aber ich habe große Angst um ihn!«
Berivan riss die Augen auf. »Kann ich irgendwie helfen?« Wencke versuchte, Berivan dankbar anzulächeln, doch das schien ihr gründlich zu misslingen.
Das Mädchen winkte einem Mann zu, der auf der anderen Straßenseite in einem gelben Wagen hockte und laut Musik hörte. Er stieg aus, hörte sich den Redeschwall des Mädchens an, nickte und hielt die Beifahrertür auf.
»Was will er?«, fragte Wencke.
»Das ist mein Onkel Eylem. Sein Taxi ist das schnellste in ganz Istanbul!«
»Ich habe aber überhaupt kein Geld dabei …«, gab Wencke zu.
»Ist egal. Ich habe ihm gesagt, du bist eine Freundin aus Deutschland und hast große Probleme. Er bringt dich hin. Sofort, wenn du willst!«
Das war mehr, als Wencke erwartet hatte. Als hätte das Schicksal sich zur Abwechslung mal für sie entschieden. »Danke!«, brachte sie hervor, dann rannte sie über die Straße. Bevor Onkel Eylem den Motor startete, kam seine Frau aus dem Laden gelaufen, drückte ihrer Nichte eine große
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