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Todesbraut

Titel: Todesbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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versuchte, sich weiter nach oben zu ziehen. Das Kabel schnitt ihr dabei scharf in die Hand, und die zweite Schlaufe war schwer zu treffen, das Gewicht hatte die Öse enger gezogen. Fast wollte sie aufgeben, als sie zumindest ein kleines Stück der Schuhspitze hineinbekam. Das brachte sie immerhin einen halben Meter nach oben. Die dritte Schlaufe traf sie schon besser, doch sie musste gegen die Tränen ankämpfen, die die Anstrengung ihr in die Augen trieb. Jetzt hing sie fast in der Waagerechten, den Rücken nach unten, ein Sturz würde sie zum Krüppel machen   … Nicht nachdenken!
    Schließlich hatte sie tatsächlich die letzte Schlaufe erklommen, weiter ging es nicht. Wenn sie sich streckte und mit einer Hand losließ, kitzelten die ersten Weinblätter an ihren Fingerspitzen. Sie begann wieder zu zittern, obwohl ihr der Schweiß über die Stirn in die Augen lief. Ihre Schultern zuckten wie unter Strom, unkontrollierbar, sie musste alle Konzentration aufbringen, um wenigstens Arme und Hände ruhig zu halten, ihr ganzes Gewicht hing nun daran. Das Loch war zu weit rechts, also wagte sie es, leicht zu schaukeln, hin und her. Und immer, wenn sie in die Nähe der grünen Ranken kam, versuchte sie etwas zu fassen zu kriegen. Vergeblich. Sie vergrößerte die Bewegung, der Elektrokasten ächzte, mit einem Ruck löste er sich aus einer Verankerung, sackte eine Handbreit tiefer, und es war klar, dies waren die letzten Sekunden, die das alte Teil noch einer solchen Belastung standhielt. Wencke gab Schwung, sah den Riss im Mauerwerk größer werden, schrie ohne zu atmen, ließ es darauf ankommen, fallen würde sie ohnehin, es gab nur noch diesen einen Versuch. Im selben Moment, in dem sie sich drei Weinranken um den Arm geschlungen hatte, krachte es. Das Gehäuse raste in die Tiefe, traf auf den harten Boden und zersplitterte in tausend Teile. Wencke hing an einem Arm drei Meter weiter oben in der Luft. Dochder Anblick des zersprungenen Plastiks setzte ihre letzten Kraftreserven frei, der unbenutzte Arm schob sich in das Loch der Kuppel, es gelang ihr, sich irgendwie hochzuhieven. In dem verschlungenen Wirrwarr aus Weinblättern konnte sie auch mit dem rechten Bein Halt finden, dann schloss sie die Augen, mobilisierte noch einmal alle Energie, zog, stöhnte, zog – bis sie sich auf dem runden Dach wiederfand, wo sie viel zu erschöpft war, um ihre Befreiung zu begreifen. Sie verschluckte sich heftig, hustete, rieb ihre Arme, die schmerzten, als hätten sie gerade eine mittelalterliche Folterung auf der Streckbank überstanden.
    Vielleicht wäre sie stolz auf sich gewesen, wenn ihr nicht in diesem Moment klar geworden wäre, dass diese Aktion sie nur wenig näher an ihr Ziel herangebracht hatte – und sie noch weit entfernt war von der Lösung einer Aufgabe, die das Schicksal sich am heutigen Tag für sie ausgedacht hatte.
    Ohne Geld, ohne Orientierung, ohne Sprachkenntnisse und ohne etwas im Magen kam man in einer Stadt wie dieser nicht voran. Geschweige denn konnte es einem gelingen, eine entschlossene Gruppe Untergrundkämpfer von ihrem Wahnsinn abzuhalten.
    Wencke schob sich langsam vorwärts, die verwachsene Mauer bot glücklicherweise genug Möglichkeiten, um ohne große Blessuren vom Dach des
Hamam
zu klettern. Vor dem Eingang war nichts von einem Jeep zu sehen, die Tür war verschlossen, ihre Entführer mussten tatsächlich bereits aufgebrochen sein. Auf der anderen Straßenseite tropfte Wasser aus einem brunnenähnlichen Ding. Wencke stürzte darauf zu, ignorierte das Schild, auf dem ein Trinkgefäß rot durchgestrichen war, und löschte gierig ihren Durst. Der Kopf wurde sofort klarer, der Boden unter ihr schien endlich nicht mehr die Konsistenz eines Wasserbettes zu haben. Nur dieses verdammte Frösteln hörte einfach nicht auf.
    Wencke schlich eng an den Häusern entlang, weil sie noch immer ihren Beinen nicht so recht traute. Die Sackgasse war menschenleer, drei magere Katzen, die sich im Gebüsch vor dem Badehaus in der Sonne räkelten, schienen die einzigen Lebewesen weit und breit zu sein. Der Weg führte leicht bergauf, machte einen Bogen und stieß wiederum auf eine kleine, öde Gasse, in der es süßlich roch. Wespen schwärmten aus, als Wencke über die klebrigen Flecken am Boden stieg, Fallobst undefinierbarer Herkunft. Ob das essbar war? Wencke spürte den Hunger erst jetzt als ein wildes, wundes Gefühl irgendwo in ihrer Körpermitte. Die wenigen Früchte, die noch an den Ästen über ihr hingen,

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