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Todesbraut

Titel: Todesbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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setzte es als Keil ein. Sobald ihre Kraft nachließ, ihr der kalte Schweiß in die Augen lief oder die Übelkeit den Körper krampfen ließ, dachte sie an ihren Sohn. Wencke flüsterte oder keuchte seinen Namen und zwang sich, stark zu sein. Das Bodengitter löste sich schwerfällig, es schien mindestens einen Zentner zu wiegen, doch vielleicht war es auch federleicht, nur ihre Muskeln machten nicht mehr mit. Sie schob es zur Seite. Das darunterliegende Loch war klein, niemals würde sie dort hindurchpassen. Selbst wenn sie die Öffnung mühsam weitete, den betonartigen BodenKrümel für Krümel zerlegte, wer sagte ihr, dass sie von dort direkt in die Kanalisation gelangen würde? Wencke schob ihren Kopf nach unten, die Kloake stank widerwärtig. Sie rückte weiter, schob ihre Hand vor sich her, folgte einem schmalen Weg – bis ihre Finger an ein weiteres Gitter stießen. Es war hoffnungslos! Hier würde sie nicht herauskommen.
    Erst jetzt wurde ihr klar, dass sie heulte. Obwohl sie doch wusste, dass Selbstmitleid jetzt das Letzte war, was sie weiterbringen würde. »Emil   … Emil   …« Ihr Schluchzen ging über in ein hemmungsloses Weinen, bis sie sich endgültig leer fühlte. Leer, ausgelaugt, am Ende ihrer Kraft und ihrer Hoffnung.
    Wencke legte sich flach auf den Boden, ließ die kalten Schauer über ihre Glieder laufen und ergab sich der Verzweiflung. Die Tränen brannten in den Augen, und sie schaffte es kaum, sie fortzuwischen. Doch ihr Blick nach oben wurde plötzlich klarer. Da, unerreichbar weit oben, hing der marode Elektrokasten. Sie blinzelte. Einen Meter über der Strombox war die Mauer bereits so zerbröselt, dass der wilde Wein seinen Weg nach innen gefunden hatte. Zwischen dem wuchernden Grün der Weinranken war die Sonne zu erkennen, sie stand schon recht hoch, es musste also bereits Vormittag sein. Und um ein Uhr fand die Massenheirat im Vorhof der
Sultan Ahmet Camii
statt. Das wäre womöglich noch zu verhindern gewesen, wenn man nicht gerade in einem gottverlassenen türkischen Badehaus am anderen Ende Istanbuls – sogar auf einem anderen Kontinent – eingesperrt wäre.
    Aber noch war es nicht ein Uhr. Noch gab es diesen einen, winzigen Funken Hoffnung, der mit dem wilden Wein hineingewachsen war in ihr Gefängnis. Sie wusste, ihre Chancen waren minimal, aber warum sollte sie sich jetzt geschlagen geben? Solange man ihr nicht die Beine am Boden des Bosporus einbetonierte, hatte sie diese letzte Möglichkeit. Und sie würde sie nutzen.
    In der Nische beim Wasserbecken stand ein alter Holzbesen, dessen Stil schon gesplittert war vom ewigen Aufquellen in schwüler Hitze. Ein Meter vierzig schätzte Wencke die Länge des Stocks. Sie nahm ihn in die Hand, drehte den borstigen Kopf nach oben, stieg auf die steinige Erhöhung in der Mitte und streckte sich. Es fehlte noch immer fast ein Meter, um an das schlaffe Beleuchtungskabel zu gelangen, aber vielleicht hatte sie Glück.
    Der erste Versuch war ein Sprung ins Nichts, sie knallte der Länge nach auf den Boden und schlug sich das Knie blutig, ohne auch nur in die Nähe der Stromdrähte gelangt zu sein. Mit etwas Anlauf würde sie vielleicht weiter kommen. Der Marmorblock ließ jedoch höchstens Platz für drei Schritte, die mussten reichen. Schon jetzt kribbelten ihre Arme, als würde eine Ameisenarmee darauf marschieren, doch sie hielt sie weiter in die Höhe, nahm Schwung, peilte das Ziel an und sprang.
    Ja! Der Besenkopf hatte sich im Kabel verhakt und riss das lose Ende herunter. Sie warf das Ding zu Boden und atmete tief durch. Jetzt konnte sie – vorsichtig – versuchen, einen Aufstieg zu wagen, es war nur der Hauch einer Möglichkeit, aber wahrscheinlich die Einzige, die sich Wencke jetzt noch bot. Sie knotete mehrere Schlaufen in die Schnur aus Kupfer und Plastik, groß genug, dass sie ihre Füße hineinstellen konnte. Ob der klapprige Elektrokasten am oberen Ende des Kabels überhaupt ihr Gewicht tragen könnte, darauf musste sie es ankommen lassen – wahrscheinlich war es nicht, und wenn, dann sicher nur für einen ziemlich kurzen Moment. Das Loch in der Decke befand sich in gut drei Metern Höhe, bis dahin musste sie es schaffen, denn ein Aufprall auf die Steinkante darunter würde Schlimmeres als ein paar blaue Flecken verursachen, soviel stand fest.
    Sie rüttelte am Kabel, stellte sich in die untere Schlaufe, testete die Stabilität, schon bröckelten erste Steinchen aus derWand. Nicht nachdenken, beschloss Wencke und

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