Todesbraut
unterwegs. Sie sitzt allein an Deck, schaut weder nach Europa noch nach Asien, sondern zum türkisblauen Marmarameer. Es passt am besten zu ihrer Situation, nicht auf ein Ufer zu blicken, sondern zur offenen See.
Schwere Schiffe auf einem Spiegel. Möwen im Tiefflug. Der große Gasballon am Hafen von Kadıköy ist aufgestiegen, nie hat sie jemanden gefragt, was es mit diesem seltsamen Gebilde auf sich hat. Und nun ist die Gelegenheit vertan.
Niemals
und
für immer
, diese Begriffe werden heute in jedem Satz vorkommen. Oder die drei Worte
ein letztes Mal
.
Sie will Sätze damit bilden.
Niemals
werde ich eigene Kinder haben.
Für immer
wird mein Name neben denen der Märtyrer des Freiheitskampfes stehen.
Ein letztes Mal
…
Sie sind genau in der Mitte des Bosporus. Ihr fällt kein Satz mehr ein. Sie denkt, vielleicht habe ich Angst, und kramt in ihrer Seele wie in einer Schublade, die vollgestopft und durcheinander ist. Aber Angst findet sie nicht. Nur Wehmut, Traurigkeit, Liebe, Stolz. Und ein bisschen Hoffnung, dass etwas besser wird, wenn sie ihren Auftrag erfüllt hat.
Der schwere Gürtel umhüllt sie unter der weiten Jacke. Sie will sich nicht vorstellen, was passiert, wenn sie den Zündfunken aktiviert. Warum auch? Das wird sie schon nicht mehr erleben. Leicht wird sie sein.
Die Bräute mit sich nehmen. Befreien von ihren Schleiern.
Das Theater beenden. Den Vorhang verbrennen.
Kein Applaus.
Sie legen an. Sie wartet, bis alle von Bord gegangen sind, undverlässt als Letzte die Morgenfähre von Kadıköy nach Eminönü. Umhüllt vom Tod.
Ein letztes Mal
hat Meryem Mêrdîn den Bosporus überquert.
20.
Sie fror erbärmlich.
Es war hell geworden, Sonnenstrahlen fielen durch die bunten Scheiben der Kuppel, warfen farbige Kleckse auf den Marmorblock darunter, aber sie brachten keine Wärme. Der Stein, auf dem Wencke eingeschlafen war, fühlte sich so kalt an, als sei er in der Nacht zum Eisblock mutiert. Gestern hatte sie sich gewünscht, die Hitze würde verschwinden. Jetzt schlugen ihre Zähne aufeinander.
Wencke richtete sich auf. In ihrem Kopf waberte eine träge Masse, die allzu schnelle Bewegungen nicht gern mitmachte. Ihr wurde übel, alles schwankte. Es war nicht möglich, mit den Augen einen Punkt zu fixieren, um so den Schwindel in den Griff zu bekommen, der Raum verschwamm vor ihren Pupillen. Die Schultern schmerzten, die Hüfte auch. Selten hatte sie sich so krank gefühlt. An den Handinnenflächen ertastete sie doch wieder Wärme auf dem Marmor. Sie hatte sich getäuscht, die Hitze war noch da, der
Hamam
heizte weiterhin unerbittlich. Nur sie selbst war offenbar immer heißer geworden, eine Art Fieber musste für den Schüttelfrost verantwortlich sein.
Man brauchte nicht Medizin studiert zu haben, um die richtigen Schlüsse zu ziehen: Wer seit Tagen unter Strom steht, in einem kalten See und dann in der Spätsommerhitze schwimmt, wenig schläft, kaum isst und trinkt, zudem zerfressen ist von Sorgen um den eigenen Sohn, der muss damit rechnen, dass der Körper irgendwann kapituliert.
Aber doch nicht jetzt, bitte nicht heute!
Sie schob erst das eine, dann das andere Bein über den Rand des Steinblocks. Draußen waren keine Stimmen mehr zu hören, genau wie gestern Nacht, bevor sie eingeschlafen war. Wahrscheinlich hatten die kurdischen Freiheitskämpfer sie hier allein zurückgelassen. Um sich auf den Weg zu machen. Zur Blauen Moschee … mein Gott! Die Hochzeit, der Sprengstoff, Emil … Wie spät war es? Wie lange hatte sie hier gelegen, wie bewusstlos, ohne Gefühl für Raum und Zeit? Definitiv zu lange!
Wencke stemmte sich hoch und wankte zur Tür, aber die Hoffnung, dass man ihr wortlos die Freiheit geschenkt hätte, wurde schnell zunichtegemacht. So sehr sie auch rüttelte, klopfte, sich mit aller Gewalt gegen die schwere Tür stemmte: Es nützte nichts, der runde Raum würde ihr Verlies bleiben.
Sie schob sich an der Wand entlang, klopfte dagegen und hoffte auf einen hohlen Widerhall, einen wackelnden Stein, irgendetwas, was man durchbrechen, aufreißen konnte. Doch die alten Mauern zeigten sich stur und unnachgiebig.
Aber unter einem der Waschbecken saß das Abflussrohr lose im Boden, sie riss es heraus und musste die Luft anhalten, denn der modrige Gestank ließ sie würgen. Das Bodengitter direkt daneben wirkte porös. Sie krallte ihre Finger hinein, versuchte, die bröckelige Füllung zu lockern. Das Rohrstück diente ihr als Werkzeug, sie schaufelte, stemmte und
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