Todesbraut
Dienstausweis, aber wahrscheinlich hätte es auch eine Bahncard getan, denn keine der Damen schaute genauer hin. Sie waren nun sichtlich aufgeregt. Kein Wunder, wahrscheinlich bestand die Hauptaktion des Tages sonst darin, die Abstände zwischen den Kleiderbügeln auf akkuratem Abstand zu halten.
Die Blonde lächelte nun etwas entspannter. »Ganz ehrlich, an diese Frau kann sich jeder hier erinnern. Wir haben auf unserer Exklusiv-Etage ja unsere Stammkundinnen, die kommen mehrmals im Jahr und kaufen sich ihre Garderobe für die Saison. Aber diese Dame hat noch nie jemand gesehen. Sie war keine Stammkundin. Nicht typisch für unser Haus eben.«
»Inwiefern?«
»Nicht, weil sie Ausländerin ist, falls Sie das denken. Zu uns kommen oft die reichen Teppichhändler mit ihren Gattinnen. Das war bei der betreffenden Dame nicht der Fall. Sie kam allein, ließ sich nur wenig Zeit, kaufte bei uns und bei den Kolleginnen von Escada und Jil Sander.«
Nun mischte sich die zweite Verkäuferin ein: »Super Figur, konnte alles so von der Stange tragen, keine Änderungen. Eine total hübsche Frau. Und sehr nett.«
»Wie hat sie bezahlt?«, fragte Axel, ganz Polizeibeamter.
»In bar. Das passiert allerdings öfter. Wir haben viele Geschäftsleute, verstehen Sie, was ich meine? Die bezahlen die Luxusartikel gern mal mit den Scheinen aus ihrem Tresor …«
Das war herzlich indiskret und Wencke stellte erleichtert fest, dass sich hinter den blasierten Make-up-Spezialistinnen wohl doch zwei stinknormale junge Frauen verbargen, die wussten, dass der Sinn des Lebens nicht in einer Handtasche von Coco Chanel bestand.
»Wann hat dieser denkwürdige Einkaufsbummel stattgefunden?«
Sie berieten sich kurz, jonglierten mit Urlaubs- und Krankheitszeiten, terminierten mit Hilfe von Modenschauen und Betriebsratsversammlungen, und einigten sich schließlich darauf, dass Shirin Talabani wohl im Juni bei ihnen gewesen war. Die Höhe der Gesamtsumme schätzten sie – nach Rücksprache mit den anderen Kolleginnen – auf einen fünfstelligen Betrag im unteren Bereich, wahrscheinlich so um die zwölftausend Euro.
Das war eine gewaltige Menge Geld, so gewaltig, dass Wencke und Axel sprachlos waren, bis sie wieder auf der Straße standen und Richtung Schneiderei liefen. Die beiden Verfolger standen hundert Meter weiter hinter einer Garageneinfahrt und schienen zu telefonieren. Sie waren die Abziehbilder von Bösewichten, mehr nicht – schweigend kamen Wencke und Axel überein, sie bis auf Weiteres zu ignorieren.
»Wenn Shirin Talabani so viel Geld hatte, warum hat sie für sich und die Kinder keine größere Wohnung gesucht? Wenn das Baby erst auf der Welt gewesen wäre, hätte kein Kanarienvogel mehr in das winzige Kellerloch gepasst …«
Axel rechnete nach. »Im Juni hat sie von der Schwangerschaft wahrscheinlich gerade erst erfahren.«
»Und wenige Wochen später bittet sie Wasmuth, ihr bei den Behördengängen behilflich zu sein, damit sie finanziell über die Runden kommt. Wie passt das denn?«
»Vielleicht hat sie nur kurzfristig so viel Geld gehabt. Nur für ein paar Tage oder Stunden. Und kaum hatte sie angefangen, sich ein paar Träume zu verwirklichen, da war es schon wieder vorbei mit dem Reichtum …«
Axel hatte recht, so könnte es gewesen sein. »Aber das spricht dann gegen meine Theorie, dass Shirin tatsächlich als Hure gearbeitet hat.«
»Diese Idee hat mich von Anfang an nicht so richtig überzeugt«, gab Axel zurück.
Ein Piepen ihres Handys machte Wencke auf einen Anruf in Abwesenheit aufmerksam, im Modehaus war der Empfang wahrscheinlich gestört gewesen. Die Wunstorfer Nummer war ihr unbekannt, sie wählte den Rückruf. »Ingeborg Hainke. Sie hatten mir doch gestern in der Schule Ihre Telefonnummer auf den Schreibtisch gelegt.«
Dass die alte Lehrerin sich noch einmal melden würde, damit hatte Wencke nicht gerechnet. »Ja?«
»Ich habe eben erfahren, dass Azad Talabani heute unentschuldigt gefehlt hat. Vielleicht ist das für Sie auch nicht mehr aktuell, und inzwischen habe ich natürlich auch schon von diesem schrecklichen Mord gehört. Wahrscheinlich war der arme Junge deswegen nicht hier, ist ja verständlich. Aber ich dachte mir, ich sage Ihnen einfach mal Bescheid, man weiß ja nie …«
»Ich danke Ihnen sehr für diese Information«, bedankte Wencke sich und legte auf. Ihr war klar, sie sollte sich dringend um die Aufforderung kümmern, die ihr gestern jemand in den Schuh gesteckt hatte.
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