Todesbraut
»Kinder wichtik! Shnell finden!«
Ja, das hatte allerhöchste Priorität. Azad und Roza mussten etwas mitbekommen haben. Vielleicht kannten sie sogar die ganze Wahrheit, man versteckte sie sicher nicht ohne Grund.
»Wir sollten jetzt erst mal sehen, dass wir die Kinder finden, und sie fragen, was in der Nacht geschehen ist, und du wirst sehen, zwischen Armancs Lügen, dem kurzfristigen Reichtum Shirins und unseren hartnäckigen Verfolgern gibt es einen Zusammenhang. Irgendjemand macht sich richtig Mühe, uns vom wahren Täter abzulenken …«
»Wie machst du das nur?«, fragte Axel und lächelte sie an. »Warum klingen aus deinem Mund die wildesten Verschwörungstheorien immer irgendwie nach einer plausiblen Erklärung?«
… hütest noch …
Am Raschplatz gab es noch vor zehn Jahren Stellen, da standen die Fixer wie an der Supermarktkasse Schlange, um sich beim Dealer ihres Vertrauens den nötigen Schuss zu besorgen. Immer schön der Reihe nach. Alte, magere, bleiche Langzeitjunkies, die sich bei der Währungsunion von »Hastmalnemark?« auf »Hastmalneuro?« umstellen mussten.
Heute ist es anders. Heroin ist nicht mehr die Droge Nr. 1. Die Fixerszene gibt es noch, aber sie ist älter geworden. Junkies leben jetzt länger. Sie treffen sich im Café Connection oder im Fixpunkt, kriegen saubere Spritzen, Beratung und was Warmes zu essen.
Sie fürchten sich nicht vor der Polizei. Sie verstecken sich noch nicht einmal vor ihr. Im Gegenteil, man kennt die Vornamen und manchmal weiß man sogar die Lebensgeschichte. Und wenn dann doch einer nicht mehr auftaucht und erzählt wird, der hat seinen letzten Trip gemacht, dann ist man davon sogar ein wenig betroffen.
Ein seltsames Miteinander. Eine Grauzone der Exekutive. Drogenbesitz ist verboten, Handel sowieso. Aber die Süchtigen sollen nach Möglichkeit nicht allzu kriminalisiert sein.
Jegliche Versuche, die Drogenszenen zu zersplittern, hatten sich als Fehlschläge erwiesen. Und bevor man die Pillen und Pülverchen am anderen Ende des Bahnhofs vertickt, womöglich in den schicken Passagen, die Namen wie »Ernst August-Carree« oder »Galerie Luise« tragen, ist es den Hannoveranern lieber, wenn die unschönen Geschäfte im gewohnt schmierigen Umfeld zwischen ZOB und Bhagwan-Disco abgewickelt werden.
Also schauen die Wachmänner geflissentlich weg – auch wenn das keiner so offen zugibt – und verbringen einen Großteil ihrer Schicht damit, betrunkene Teenager zu ihren Eltern zu kutschieren oder anzurücken, wenn die Security einen Handtaschendiebstahl meldet oder die Bahnhofsmission ihnen einen geistig verwirrten Passanten überstellen will.
Man nennt sie auch »die Kellerkinder«, denn das triste Revier befindet sich unterirdisch, das Tageslicht hat die Polizeidienststelle am Raschplatz noch nie gesehen. Wenn gefragt wird, wo man arbeitet, heißt es: »Ich bin unten«, dann wissen die Kollegen Bescheid. An den Wänden hängen abgewetzte Plakate, die über die Gefahr von Drogen aufklären sollen. Ein bisschen lächerlich, wer hier ankommt, weiß selbst, dass es keine gute Idee war, zu dem Zeug zu greifen. Gegenüber der Wartebank sieht man das Vorher-Nachher-Porträt einer Frau, die es ein Jahr mit Crystal Meth probiert hat. Daneben prangt der Paragraf 31 des Betäubungsmittelgesetzes. Der hängt auch noch mal in der Zelle, die von oben bis unten gefliest ist. Während der Leibesvisitation kann der Verdächtige sich hier noch mal überlegen, ob er nicht einen Komplizen verpfeift, der in der Rangliste über ihm steht. Auf diese Weise kann er auf gnädige Richter hoffen. Und auf ungnädige Kumpels.
Es soll schöner hier werden, verspricht die Stadt. Der Bauzaun ringsherum und der ewige Lärm der Presslufthammer lässt hoffen. Die junge Truppe, die statt Uniform weite Sweatshirts und Cargohosen trägt, um nicht aufzufallen, stimmt auch ein kleines bisschen optimistisch.
Doch im Grunde hat die Tristesse die Oberhand. Die Frage, ob das hier, dieser Job, dieses Wegschauen, ob es das ist, was man sich zu Beginn der Polizeikarriere gewünscht hat, ob das reicht, bei dem Hungerlohn, ob das wirklich zufrieden macht – diese Frage muss jeder mit sich selbst klären. Das Einzige, wasdie Ordnungshüter am Raschplatz beschützen dürfen, sind Gewohnheit und Alltag der Subkulturen.
Es bleibt zwischendurch Zeit, beim LKA anzurufen, um sich über allzu eifrige Mitarbeiter zu beschweren. Oder Menschen anzusprechen, die man kennt durch irgendeine Sache von
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