Todesbraut
Schulgebäude noch einmal umgedreht und ihr zugewunken hatte. Bis heute Abend, Mama …
»Ein weißes T-Shirt , auf dem I LOVE COLORADO steht.«
Und sonst? Ein eher kleiner Junge, eher dünn, eher unscheinbar. Blaue Augen, halblange Fransenfrisur, fast zu lang für einen Jungen, straßenköterblondes Haar, so wie ihres, wenn sie es nicht regelmäßig rot färben würde. Wencke fühlte sich wie in der Mitte durchgerissen, auseinandergefallen, sie fing an zu heulen. So war es, wenn man sich nicht zusammennehmen konnte. Der Rotz lief ihr aus der Nase.
Liebrecht reichte ihr ein Tempo. »Wir werden Emil finden, vertrauen Sie mir. Sie wissen doch selbst: die Kinderverschwinden normalerweise aus den harmlosesten Gründen …«
Wencke dachte an einige Fälle in ihrer Vergangenheit, wo die Suche nach einem vermissten Kind alles andere als gut geendet hatte. Die beiden Mädchen damals an der Küste, beide zwölf Jahre alt … Diese Frau erzählte, was man Eltern erzählen sollte, um sie zu beruhigen. Aber Wencke wusste natürlich nur zu gut, dass diese Floskeln nicht immer der Wahrheit entsprachen.
Trotzdem zwang sie sich, daran zu glauben. Sollte sie die Nerven verlieren, würde es alles nur noch schlimmer machen. Es ging um Emil. Seit drei Stunden war er schon verschwunden. Was war sie nur für eine Mutter, dass sie davon nichts mitbekommen hatte? Gab es nicht diese Alarmsignale, die sich unabhängig von Zeit und Raum bemerkbar machten? Liebenden Eltern lief doch ein Schauer über den Rücken, wenn ihrem Kind irgendwo in der Welt Unheil drohte – war das nicht so? Und sie? Sie hatte nichts gespürt. Hatte sich ablenken lassen von einem Fall, der ihr wichtiger erschienen war als der pünktliche Feierabend mit ihrem Sohn.
»Frau Tydmers, es nutzt niemandem etwas, wenn sie sich selbst zerfleischen.« Die Stimme der Polizistin wurde immer ruhiger, je aufgebrachter Wencke war. Kein Zweifel, die Misburger Ordnungshüterin machte ihren Job gut und gewissenhaft. »Die erste Suchmeldung ist raus, die Kollegen halten die Augen offen!«
»Danke«, brachte Wencke zustande.
»Und Ihr Freund, mit dem ich gerade telefoniert habe, ist der Vater?«
Wencke schüttelte den Kopf. »Nein, aber so ähnlich.«
»Und der leibliche Vater?«
»Der hat damit nichts zu tun. Er hat kein Interesse an Emil.« Himmel, warum passierte nichts!, dachte Wencke, warummusste sie hier sitzen und Rede und Antwort stehen, während Emil … »Ich glaube eher, dass sein Verschwinden etwas mit dem Fall zu tun hat, den ich gerade bearbeite.«
»Gut, wenn Sie meinen …« POM Liebrecht schob Tastatur und Papierkram zur Seite und wandte sich nun ausschließlich Wencke zu. »Dann erzählen Sie mir mal, worum es in diesem Fall genau geht.«
»Ehrenmord, die Sache in Wunstorf …«
Die sachlichen, knapp vorgebrachten Fragen der Polizistin lenkten Wencke nach und nach wieder in ruhigeres Fahrwasser. Sie erzählte, erst stockend, dann immer kontinuierlicher, die ganze Geschichte. Die tote Shirin Talabani – ja, davon hatte POM Liebrecht bereits gehört –, ein geständiger Bruder, ein abgewiesener Verehrer, die versteckten Kinder und ungezählte seltsame Verfolger, dazu Meinungsverschiedenheiten und Kompetenzgerangel im LKA, nebulöse Verbindungen zu Terrorgruppen, ein Informant an der Blauen Lagune, eine halbtote Anwältin mitten im See. Und nun war Wenckes Sohn verschwunden, weil ein türkischer Junge eine falsche Behauptung gemacht hatte. Der Zusammenhang war offensichtlich, Emil musste entführt worden sein, damit man Wencke ausbremsen konnte – genau wie man Kutgün Yıldırım zum Schweigen hatte bringen wollen, dort im Mergelbruch. Wer immer hinter all dem steckte, war ohne Skrupel und wild entschlossen.
Der Kräutertee, den die Polizistin ihr nun statt eines Kaffees aus einer Thermoskanne einschenkte, tat gut. »Johanniskraut und Melisse wirkt tatsächlich beruhigend«, verriet sie. »Ist mein privates Heißgetränk. Kaffee vertrage ich bei der Arbeit schon lange nicht mehr, der Job ist aufputschend genug.« Sie führte Wencke zu einer schon etwas fadenscheinigen Sitzgarnitur in der Ecke des Vernehmungszimmers und setzte sich neben sie. »Aber warum haben Sie denn nicht die Polizei eingeschaltet? Als ehemalige Kollegin müssen Sie doch gewussthaben, dass es nicht ungefährlich ist, sich mit anonymen Informanten zu treffen.«
Wencke zuckte die Achseln. »Ich hatte ein ungutes Gefühl, was die Polizei angeht …«
POM
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