Todesbraut
Liebrecht verzichtete auf einen Kommentar, machte auch kein skeptisches Gesicht, und das war der Grund, warum Wencke sich entschied, an dieser Stelle konkreter zu werden, auch wenn die Angst um Emil es ihr fast unmöglich machte, einen vollständigen Satz zustande zu kriegen. »Ich habe die Vermutung, dass ein Kollege aus Hannover irgendwie in die Sache involviert ist. Die Tote hatte einen uns unbekannten Liebhaber, von dem sie ein Kind erwartete. Und ein Polizist, den ich am Anfang eher zufällig mit der Sache in Verbindung gebracht hatte, scheint sich mehr für die Sache zu interessieren, als angezeigt wäre.«
»Sie halten ihn für den namenlosen Geliebten?«
»Eventuell. Als ich bei ihm zu Hause war, hatte ich das Gefühl, dass dort etwas ziemlich schiefläuft. Warum, kann ich nicht genau benennen. Ungute Schwingungen zwischen Mann und Frau, viel Unausgesprochenes.« Die Zuhörerin nickte, sie verstand sofort, dass es hier nichts gab, was man formal hätte belegen können, und sie schien es auch nicht zu erwarten. »Dann habe ich erfahren, dass dieser Polizeioberkommissar die Familie des Opfers über die Ermittlungen auf dem Laufenden hält. Das ist wohl eher unüblich, oder? Außerdem hat er mich bei meiner Vorgesetzten angeschwärzt, weil ich nach seinem Verständnis meine Kompetenzen überschritten habe.« Wencke nahm einen Schluck Tee. »Ich gebe ja zu, das klingt alles etwas wirr, aber ich habe mich schon oft genug auf meinen Bauch verlassen müssen, und irgendwie habe ich das Gefühl …« Das konnte sie dann doch nicht beim Namen nennen, stattdessen schwieg sie. Sie stellte die Tasse wieder auf den Tisch und erschrak, als sie ihre eigenen Hände zittern sah.
»Hat der Kollege etwas mit den Ermittlungen im Fall Talabani zu tun?«
»Nein, eben nicht. Er arbeitet am Raschplatz, sein Wirkungskreis beschränkt sich auf die Drogenszene …«
POM Liebrecht setzte sich aufrechter hin, schien mit einem Mal noch mehr bei der Sache zu sein. »Wissen Sie, ob dieser Polizist und das Opfer sich kannten?«
»Ja, er ist der Fußballtrainer der beiden Kinder …«
Liebrecht schlug sich mit beiden Händen auf die Oberschenkel und lehnte sich zurück. »Jetzt sagen Sie aber nicht, wir reden gerade über POK Karsten Völker …«
Wencke fuhr hoch. »Treffer!«
Man sah der Polizistin an, dass sie mit sich rang, dass sie etwas loswerden wollte, was nicht hierhingehörte. Plötzlich sprang sie auf, schob einen US B-Stick , den sie in der Uniformjacke getragen hatte, in den PC und tippte auf ihre Tastatur. Dann beugte sie sich zu Wencke hinüber. »Sie entschuldigen mich, ich muss kurz auf die Toilette, fünf Minuten. Ich brauche Sie ja als ehemalige Kollegin nicht zu ermahnen, dass Sie hier nichts anfassen oder anschauen dürfen, weil alles dem Datenschutz unterliegt, oder?« Ohne ein weiteres Wort verließ sie den Raum.
Wencke saß da wie erstarrt.
Nein, eigentlich war sie nicht in der Lage, sich nur einen Zentimeter zu bewegen, denn sobald sie an Emil dachte, hatte sie das Gefühl, die Erdanziehungskraft wäre um ein Dreifaches stärker geworden. Doch der letzte Satz der Polizistin war eine offensichtliche Einladung zum Schnüffeln gewesen, wenn auch auf eigenes Risiko. Und sobald Wencke es auf den Stuhl vor dem PC geschafft hatte, begriff sie, warum. POM Ursula Liebrecht hatte auf ihrem privaten US B-Stick einen ganzen Ordner nach dem seltsamen Kollegen aus Hannover benannt. Die Unterdateien von ›Karsten Völker‹ hießen ›beweise.doc‹, ›briefe.doc‹, ›chronologie.doc‹ und ›versetzung.doc‹.
Wencke versuchte, ihren Verstand zu fokussieren, indem sie sich jeglichen Gedanken an Emil verbot – es klappte nicht im Geringsten. Sie musste schnell sein und versprach sich von der Chronologie die effektivsten Informationen. Doppelklick. Auf dem Bildschirm öffnete sich ein Dokument von mehr als dreißig Seiten, die von einer Tabelle ausgefüllt waren. Es blieb nur wenig Zeit, die Daten zu überfliegen, Verfasserin war Ursula Liebrecht, die ersten Aufzeichnungen stammten aus einem Zeitraum, der rund drei Jahre zurücklag. Wencke wünschte sich, sie wäre ein wenig ruhiger, ein bisschen konzentrierter, um zu begreifen, was hier aufgelistet war. Doch nach und nach erschloss sich ihr das Ganze. Sie wagte noch einen kurzen Blick in die anderen Dateien, zuckte aber zusammen, sobald sie draußen im Flur Schritte oder Stimmen hörte. Wenn jemand sie hier beim Schnüffeln erwischte, wäre sie
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