Todesbraut
endgültig erledigt. Die Wanduhr zeigte, dass die fünf Minuten bereits um waren, zu knapp, so ein Mist.
Wenn sie das Gelesene richtig zusammenreimte, dann war die Misburger Polizistin bis vor zwei Jahren noch am Raschplatz im Einsatz gewesen, kannte also Karsten Völker beruflich. Bei irgendeinem Fall, den die beiden vor drei Jahren gemeinsam bearbeitet hatten, waren ihr Ungereimtheiten aufgefallen. Polizeiberichte waren gefälscht worden, Zeugen hatten ihre Aussage zurückgezogen, einen verdächtigen Großdealer hatte man laufen lassen müssen. Erst hatte das wie eine Verkettung unglücklicher Umstände ausgesehen, bis kurze Zeit später – wieder bei einem Delikt, dessen Ermittlungsakten von Völker unterschrieben worden waren – ganz ähnliche Missstände auftauchten. Diese Auffälligkeiten hatte POM Ursula Liebrecht dann auch pflichtbewusst erst im Team besprochen, danach sogar an die Interne Ermittlung weitergeleitet. Mit dem Erfolg,dass sie nur wenig später nach Misburg versetzt worden war, obwohl sie sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt hatte. Wegen angeblich unüberbrückbarer Differenzen im Team. Das war die Essenz aus Wenckes hektischer Schnüffelei. Man konnte nur ahnen, warum Liebrecht den US B-Stick immer griffbereit in ihrer Jackentasche trug: Für sie war die Angelegenheit noch nicht abgeschlossen. Sie suchte wahrscheinlich noch immer nach einer Möglichkeit, den Kollegen Völker der Korruption zu überführen. Und nun glaubte sie, eine neue Gelegenheit aufgetan zu haben.
Aber was bedeutete das für Wencke? Und vor allem für Emil? War ihr Sohn durch die Ermittlungen in einen Fall hineingeraten, dessen Ausmaße in diesem Augenblick niemand erahnen konnte? Hinter dem sogenannten Ehrenmord an Shirin Talabani könnte auch etwas ganz anderes stecken. Vielleicht hatte man es hier gar nicht mit einer klassischen Familientragödie zu tun, einem Racheakt an einer emanzipierten Kurdin, vielleicht ging es ja gar nicht um verletzte Gefühle und archaische Traditionen – vielleicht war alles viel banaler und drehte sich lediglich um einen Skandal in Polizeikreisen? Das konnte bedeuten, dass Wencke sich – ohne es geahnt zu haben – noch mehr Feinde gemacht hatte, als bislang vermutet. Das hieß, ihr Gegner war weitaus gefährlicher, weitaus stärker, als bislang gedacht. Sie konnte sich auf niemanden verlassen, wusste nicht, wer auf welcher Seite stand. Es war durchaus möglich, dass auch im LKA Menschen saßen, die Karsten Völker schützen wollten, mit ihm gemeinsame Sache machten. Tilda Kosian? Boris Bellhorn? Auszuschließen war das sicher nicht.
Sie alle dort wussten, dass Wencke einen Sohn hat, wo er zur Schule geht, wann er abgeholt werden muss. Und dass Wencke alles, alles machen würde, damit Emil nichts geschah.
Als die Liebrecht wieder ins Zimmer kam, hatte Wencke die verräterischen Dateien bereits geschlossen und stand am Fenster.Axel Sanders raste mit seinem Wagen vor, stieg eilig aus, fing ihren Blick auf. Ihm ging es nicht besser als ihr.
Seit Jahren verspürte Wencke zum ersten Mal wieder den Drang, eine Zigarette zu rauchen. Und einen Schnaps würde sie jetzt in einem Zug hinunterstürzen.
»Ich habe schreckliche Angst«, sagte sie zu der Polizistin, die sich wortlos neben sie gestellt hatte.
»Das kann ich verstehen«, antwortete die.
… mit …
Das Kind hat sie bei ihren Eltern untergebracht, als sie merkte, es spitzt sich zu.
Jetzt packt sie die Koffer.
Oder besser: Sie steht schon seit Stunden vor ihren beiden Reisetaschen und überlegt, was ihr wichtig ist im Leben. Sie muss sich entscheiden.
Ihre Kleider? Die Fotoalben? Wichtige Konto- und Versicherungsbelege? Das Wasserbett? Der Dampfgarer? Die kompletten Brockhaus-Bände? Das silberne Fischbesteck?
Wenn sie feige ist, reicht ein Koffer.
Wenn sie sich traut, alles das einzupacken, woran ihr Herz hängt, braucht sie einen Umzugswagen.
Mitten in der Nacht wird sie keinen Lkw ordern können.
Und morgen früh hat sie vielleicht der Mut zum Verlassen verlassen.
Dies ist die letzte Gelegenheit. Zuvor hat sie schon zu viele verstreichen lassen.
Diese Vorwürfe wegen Korruption hatte sie als Zickenterror einer unzufriedenen Kollegin abgetan. Ihr Mann sollte käuflich sein? Niemals!
Als sie von seinem Vorgesetzten – mehr zufällig – erfuhr, dass er gar keine Spätschicht hatte an dem Tag, als sie händeringend einen Kindersitter brauchte, um zum Elternabend gehen zu können, glaubte sie noch an ein
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