Todesbrut
jetzt ab. Er wollte aus allem immer mehr machen, als es hergab. Er war auf eine grundsätzliche Art unzufrieden. Unzufrieden mit seinem Job, mit ihrem Haus, mit seinen Kindern, mit seinem Körper, mit ihrem gemeinsamen Sex, sofern sie noch welchen hatten. In gewisser Weise war er wie dieses Land, wie die Gesellschaft, in der sie beide aufgewachsen waren. Alles musste immer wachsen, besser werden, toller, weiter, schöner, ertragreicher. Nur Idioten waren zufrieden. Versager, die sich selber aufgegeben hatten. Penner. Loser. Kai hatte die Unzufriedenheit in sich von Kindheit an aufgesaugt. Er war gierig geworden nach Erfolg, Anerkennung und Geld. Sein Körper musste muskulös sein. Seine Kinder sollten Wunderkinder sein. Seine Ehe eine Traumehe.
In seiner Unzufriedenheit lebte er in völliger Übereinstimmung mit den meisten Menschen, die ihm wichtig waren. Er war sozusagen mit nichts zufrieden, außer mit seiner Unzufriedenheit. Sie hatte seine Schöner-schneller-weiter-besser-Welt zerstört. Eine Trinkerin passte nicht hinein in seine Vorstellung von einem Leben und eine Frau, die etwas mit anderen Männern hatte, erst recht nicht.
Margit kam sich für einen Moment wie eine trotzige Heldin vor, dann klatschte eine Welle über Bord und spülte ihr fast die kleine Viola aus den Armen. Sie alle wurden hochgehoben, auf den Kamm der Wellen, und sausten dann wieder hinab.
Klatschnass duckte Margit sich mit dem Kind ins Boot, in dem das Wasser sich inzwischen handbreit hoch sammelte. Ihr wurde schmerzhaft bewusst, dass auch sie angetrieben worden war von der Gier und der Unzufriedenheit. Der Gier nach Betäubung, Rausch, Männern und Bestätigung …
Dann riss der Anblick von dem im Wasser liegenden Dennis sie aus allen Gedanken. Er streckte die Hand nach seiner Mutter aus. Eine weitere Welle ergoss sich ins Innere des Bootes. Der Wasserstand stieg. Dennis hatte Mühe, den Kopf oben zu halten. Sie drohten zu kentern. Sie wurden hin und her geworfen. Kai schrie wie ein Kind in Not.
Sofort kam mit der Angst um ihren Sohn die Wut auf Kai zurück. Warum tat er nichts? Sie kümmerte sich doch um Viola. Konnte er nicht für Dennis da sein?
Sie sah sich nach ihm um. Er saß gar nicht mehr hinter ihr. Erst jetzt nahm Margit zur Kenntnis, dass Kai über Bord gegangen war.
Mein Gott, dachte sie, kriege ich denn gar nichts mit? Ist es wieder wie damals, als ich noch gesoffen habe? Ich bin ganz in mir und nehme die Außenwelt nicht wahr?
Entweder hatte Benjo auch nicht bemerkt, dass Kai verschwunden war, oder es war ihm egal.
Margit Rose wusste nicht, was sie zuerst tun sollte. Sie hatte Viola im Arm. Das Boot schaukelte bedenklich. Sie musste Dennis’ Kopf aus dem Wasser heben.
Jetzt hörte sie Kai schreien: »Hier! Ich bin hier!«
Benjo arbeitete gegen die Strömung und versuchte, das Boot so zu halten, dass es den Wellen keine Breitseite bot. Er hatte Angst, sie könnten sonst kentern. Der Satz »Nordsee ist Mordsee« schoss durch seinen Kopf.
Er hatte den Wellengang total unterschätzt. Die Spitze des Rettungsbootes wurde hochgedrückt und verdeckte die tief stehende Sonne. Sie flogen alle nach hinten und krachten gegeneinander wie Kugeln beim Bowling.
Dennis lag ganz unten. Er konnte nicht einmal mehr schreien.
Dann kippte der Bug des Bootes über den Wellenkamm tief nach vorn. Benjo glitt auf dem Rücken wieder zurück durch das Wasser auf dem Boden, wie in einer Schwimmbadrutsche. Dabei stieß er sich den Kopf an der Sitzbank. Hinter ihm kam Margit Rose mehr angeflogen als angerutscht. Sie umklammerte die kleine Viola und ließ sie nicht los. Violas Kopf pendelte am Hals so unnatürlich hin und her, als ob er nur noch mit der Haut am Körper festgehalten würde. Margit Rose schlug mit der Hüfte auf der Sitzbank auf. Dann fiel sie kopfüber.
Benjo hatte keine Ahnung, wie so ein Boot zu steuern war. Mit Chris hatte er mal ein Bötchen gemietet und sie waren für sieben Euro eine Stunde auf dem See herumgepaddelt. Sie hatten sich das romantisch vorgestellt. Es war aber eigentlich doof, ohne eine Spur von Romantik, weil außer ihnen noch ein Dutzend Paare auf die gleiche Idee gekommen waren und ein paar Familien mit kreischenden Kindern ebenfalls. Außerdem war der See nur ein künstlicher Teich. Echt waren nur die verdammt hungrigen Stechmücken, die in surrenden Flugverbänden angriffen. Es waren Tausende. Sie kamen aus dem Schilf wie eine Staubwolke. Über jedem Boot tanzte so eine blutsaugende Vampirbande.
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