Todesbrut
damit nichts zu tun. Sie konnte, wie auch immer, noch etwas ausrichten. Jetzt musste gehandelt werden.
Der Rotkreuzhubschrauber wartete. Sie verließ den Krisenstab in einem sandfarbenen ABC-Schutzanzug, der aus drei Teilen bestand: einer Jacke mit angeschweißter Kapuze und Handschuhen, einer Atemschutzmaske und einer reißfesten Hose mit integrierten Überschuhen. Es gab nur Einheitsgrößen, die mit Bändern enger gezogen werden konnten. Auf dem Beipackzettel stand, der Anzug könne auch bei radioaktivem Niederschlag verwendet werden.
Sie kam sich unförmig vor wie ein Kinderschreck und komischerweise nicht geschützt, sondern ausgeliefert. Das Atmen fiel ihr schwer und sie schwitzte so sehr, dass das Gesichtsfeld der Schutzmaske beschlug.
Sie hörte sich nach Luft schnappen. Der Atemwiderstand der Vollmaske war zu groß. Am liebsten hätte sie sich das Ding vom Gesicht gerissen. Jeder Schritt geriet ihr zur körperlichen Schwerstarbeit.
Der Fahrstuhl durfte in Krisenzeiten generell nicht benutzt werden, viel zu hoch war die Gefahr eines Stromausfalls. Aber die Treppen erschienen ihr fast als unüberwindliches Hindernis, als könne sie es gar nicht bis zum Hubschrauber schaffen und würde vorher in ihrem ABC-Anzug ersticken.
Sie wurde von einem Mitarbeiter der Verwaltung gestützt. Er war höchstens dreißig und trug nur einen PI-Mundschutz, was völlig unsinnig war. Wirksam gegen Viren und Gase waren die Filter P1 und P2 nicht. Erst ein P3-Filter garantierte für wenige Stunden Schutz, wenn er gut saß und sein Träger ihn nicht ab und zu abnahm, um frei atmen zu können. Der junge Mann hatte nicht einmal seine hellblaue Krawatte gelockert, er war einer der ganz Korrekten. Sie mochte ihn, aber sie hatte seinen Namen vergessen.
Nach der Krise, dachte sie, falls es ein Nachher gibt, sollte ich solche Leute mehr fördern.
Dann saß sie im Hubschrauber, den Geldkoffer neben sich. Fünf Millionen, ein Wahnsinn …
Der Koffer war nicht schwer. Es gab ein Zahlenschloss mit vier Ziffern. Bei 0000 würde das Schloss aufspringen. Irgendjemand hatte eine andere Zahlenfolge vorgeschlagen, aber sie hatte sich dagegen ausgesprochen, sie wollte ihre Situation nicht noch unnötig komplizieren. Sie hatte jetzt schon Schwierigkeiten, mit dem Handschutz das Kofferschloss zu öffnen. Der Anzug war so groß, dass ihre Finger sich wie in Plastikfäustlingen bewegten. Sie fühlte nicht wirklich, was sie berührte. Ohnehin war sie ihrer normalen Sinneseindrücke beraubt. Sie roch nichts mehr. Alles hörte sich dumpf an. Ihr Blick war durch ihren feuchten Atem getrübt. Der Hubschrauber war laut, der Lärm erschütterte ihr Innerstes. Sie hatte Angst, bald auch jeden klaren Gedanken zu verlieren.
Sie musste dem Piloten keine Anweisungen geben. Er wusste, wohin die Reise ging, zum Hubschrauberlandeplatz der Ubbo-Emmius-Klinik in Norden, Ostfriesland. Dort wartete angeblich jemand, um den Koffer in Empfang zu nehmen.
Die letzten Worte des Südstaatlers klangen ihr noch in den Ohren: »Wenn mein Freund mit dem Koffer an einem sicheren Ort ist und wir zweifelsfrei wissen, dass Sie uns nicht verfolgen lassen oder sonst wie reingelegt haben, dann teilen wir Ihnen mit, wo der Impfstoff ist. Wir müssen vorsichtig sein. Wir haben keine Angst vor Ihnen oder vor der Polizei, wir tun nichts Ungesetzliches. Aber wir fürchten die CIA. Die killen uns, um alles zu vertuschen. Diesen Impfstoff dürfte es eigentlich gar nicht geben.«
Manchmal war er in seiner Rede sehr klar, manchmal war er schwammig und warf alles um. Was hatte das mit dem Gewährsmann in Emden zu bedeuten? War alles ein Bluff?
Als sie mit dem Hubschrauber über die Stadtgrenze flogen, sah Kerstin Jansen mit Schrecken, dass dort unten Kämpfe stattfanden.
Keilförmig versuchte ein Trupp mit schweren Räumfahrzeugen durch die Absperrung zu brechen. Tote und Verletzte lagen am Straßenrand. Eine Nebelgranate explodierte. Ein Wasserwerfer war von einem Bagger in eine Hauswand gedrückt worden. Blaulicht, Scheinwerfer, zwei offene Feuer und ein brennender Pkw beleuchteten die gespenstische Szene.
Bürgermeisterin Jansen konnte die Lage nicht einschätzen. Warum war sie nicht informiert worden? Funktionierte die Kommunikation zwischen den örtlichen Krisenstäben, der Bundeswehr, dem Grenzschutz und den Polizeikräften überhaupt? Wer hatte hier gerade das Sagen? Sie jedenfalls nicht. Sie war froh, dass ihr Rotkreuzhubschrauber nicht zur Landung gezwungen wurde.
Der Flug von
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