Todesbrut
steht zur Verfügung. Kann ich es Ihnen nicht auf ein Konto überweisen? Das geht blitzartig. Die Sparkasse würde …«
»Beleidigen Sie nicht meine Intelligenz. Haben Sie Bargeld?«
»Ja.« Sie schluckte und sah vor sich auf die Tischplatte. Der Kaffeebecher hatte einen klebrigen Rand hinterlassen. Sie wischte mit dem Zeigefinger darüber. Es war ihr plötzlich sehr wichtig, diesen Fleck zu beseitigen. Sie begann, hektisch daran herumzuknibbeln, als müsse wenigstens die Tischplatte sauber sein, wenn schon sonst alles aus den Fugen geriet.
Der Mann am Telefon wusste genau, was er wollte, er sprach präzise und laut. Sie glaubte ihm, dass er ein Berufssoldat der US-Armee war, oder er spielte sehr gut. Für einen Moment dachte sie darüber nach, seine Englischkenntnisse zu testen, aber sie hatte Angst, sich dabei zu blamieren. Außerdem wollte sie keinen Nebenkriegsschauplatz eröffnen.
»Der Krisenstab hat keine Möglichkeit, aus der Stadt zu kommen? Das soll ich Ihnen glauben? Sie haben sich selbst in die Falle gesetzt?«
»Wenn mich das Virus erwischt hat, bin ich genauso ansteckend wie jeder andere auch. Warum also sollte man mich herauslassen?«
»Okay. Wenn das so ist, dann … Ich habe in Emden einen Gewährsmann. Dem übergeben Sie das Geld.«
»Und wie komme ich an den Impfstoff?«, fragte sie und kam sich dabei klein und dumm vor.
Ein Vertreter der Wasserschutzpolizei sagte zu seinem Nachbarn: »Wir könnten schon raus … mit einem unserer Schnellboote …«
Frau Jansen warf ihm einen vernichtenden Blick zu.
Natürlich hatte der Südstaatler es gehört. Er lachte. »Also, Sie starten jetzt mit Ihrem Boot. Wenn Sie hinter den abgesperrten Linien sind, rufe ich Sie auf Ihrem Handy an.«
Irgendjemand stöhnte. »Das ist doch alles Irrsinn!«
»Geben Sie mir noch zwanzig Minuten«, bat die Bürgermeisterin. »Ich werde versuchen, mir einen Hubschrauber zu organisieren.«
»Ich habe Zeit. Ihnen läuft sie weg«, war die knappe Antwort.
101 Es musste eine Spezialeinheit sein. Sie kamen im Schutz der Dunkelheit. Charlie hätte nicht einmal sagen können, ob sie Hubschrauber oder Schnellboote benutzt hatten. Eigentlich war beides unmöglich. Sie hatten sich lautlos genähert und waren plötzlich überall gleichzeitig. Sie gingen planvoll vor, bestens koordiniert.
Charlie musste an Ninjakrieger denken, an Filme, wie er sie in seiner Pubertät geliebt hatte.
Ihre Erscheinung erinnerte an die dunkle Armee von Darth Vader. Die Männer trugen kugelsichere Westen, dazu Helme und Atemschutzgeräte und sie waren noch zusätzlich vermummt. Ihre Waffen hätten dem Terminator alle Ehre gemacht. Von ihren Köpfen gingen Lichtkegel aus, die ihrem Erscheinen etwas Irreales gaben. Sie suchten ihre Ziele mit Laserpunkten; wie dünne rote Spinnenfäden kreuzten sich die Laser, als würde eine Riesenspinne versuchen, die Fähre einzuwickeln, um sie irgendwo in Ruhe zu verspeisen.
Jeder dieser Männer hatte nur eine Frage: »Wo ist Kapitän Ole Ost?«
102 Das Gefühl, in ihrer Handlungsweise vorbestimmt zu sein, keine Alternative zu haben, machte Bürgermeisterin Jansen fertig. Es war, als wäre sie eingesperrt.
Manchmal hatte sie sich in ihrer Ehe so gefühlt, wenn die Schulden erdrückend wurden und sie nachts stumm und steif nebeneinanderlagen. Wenn sie dann in die Dunkelheit gestarrt hatte, sowar es gewesen, als würden die Wände immer näher kommen, ja, das Zimmer war kleiner geworden und sie hatte kaum noch Luft bekommen.
Der Gang zum Kühlschrank hatte dann etwas Befreiendes. Sie aß, um nicht zu ersticken. Käse. Wurst. Joghurt. Vielleicht brauchte sie deshalb um sich herum so etwas wie eine perfekte Ordnung, wo alles an seinem Platz war, wo alles »stimmte«. Vielleicht schichtete sie deshalb Papiere parallel zueinander, befreite den Bleistift von dem Schokofleck und stellte das Wasserglas exakt in die Mitte der Ablage, mit der Aufschrift »St. Ansgari« nach vorn.
Ihr Vater hatte Selbstmord begangen, als sie fünfzehn war. Die Tat hatte sie aus ihrer Welt gerissen und seitdem hatte sie dieses Frösteln auf der Haut, selbst im Sommer, wenn die Sonne vom Himmel brannte. Jetzt verstand sie ihren Vater zum ersten Mal. In den letzten Stunden war sie dem Suizidgedanken nähergekommen. Wenn es gar keinen Ausweg mehr gab, konnte das dann nicht eine Lösung sein? Ein letztes selbstbestimmtes Handeln?
Sie ballte die Faust ums Wasserglas und kämpfte den Gedanken nieder. Nein, ihre Situation jetzt hatte
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