Todesbrut
Henning Schumann leistete keinen Widerstand, als die schwarz vermummten Gestalten die Kommandobrücke von zwei Seiten gleichzeitig stürmten.
Punktlaser fixierten ihn.
Im Bruchteil von Sekunden war er entwaffnet und fand sich auf dem Boden wieder. Sein Gesicht wurde dicht neben dem toten Fokko Poppinga niedergedrückt.
Er roch das angetrocknete Blut. Viel stärker als die Angst vor den Polizisten war sein Ekel vor dem toten Seemann. Er wollte ihn auf keinen Fall berühren.
Noch hatte er die Hoffnung, das Ganze hier als Held verlassen zu können. Er sah sich in Talkshows auftreten und vielleicht sogar ein Buch schreiben. Das hier konnte der Start seiner politischen Karriere werden.
War nicht Helmut Schmidt, der Altkanzler, einst durch die große Flutkatastrophe in Hamburg in die Bundespolitik katapultiert worden? Er hatte einen Aufsatz darüber geschrieben: Gesellschaftspolitische Krisen, Naturkatastrophen und Revolutionen als Karrierechancen.
Er, Henning, durfte nicht mit dem Tod von Fokko Poppinga in Verbindung gebracht werden. Er musste später als entschlossener Retter dastehen, dann würde man ihm Irrtümer oder Regelverstöße nachsehen. Es ging hier um das Was, nicht um das Wie.
Er wollte sich den Männern erklären, aber die kümmerten sich nur um Ole Ost. Sie befreiten ihn und fragten: »Wo sind die Rädelsführer? Gibt es noch mehr Waffen an Bord? Wie viele Verletzte müssen versorgt werden?«
Der Kapitän hörte zu, küsste das goldene Kreuz, das an der Kette um seinen Hals hing, als hätte er ihm die Befreiung zu verdanken. Dann zeigte er auf Henning Schumann: »Er und ein Bordkellner haben die Meuterei angezettelt.«
»Er lügt!«, rief Henning Schumann. »Er ist ein verdammter Lügner! Wir mussten ihm die Befehlsgewalt über das Schiff nehmen, wir haben im Notstand gehandelt. Der Kapitän und seine Leute hätten uns nach Emden zurückgebracht. Ich habe den Mann nicht erschossen! Das war Herr Kirsch, Rainer Kirsch! Es ist seine Pistole und ich habe ihn entwaffnet, ich!«
106 »Bitte«, sagte Benjo, »kann mir jemand ein Handy leihen?« Jörg Bauer, der Mathelehrer, hielt ihm wohlwollend nickend sein Nokia hin. Der freundliche Blick des Lehrers berührte Benjo in seinem Innersten. So hatte ihn schon lange niemand mehr angesehen. Bis vor wenigen Sekunden war er sich wie ein rasender Actionheld vorgekommen. Er war, was er tat, und er tat, was notwendig war. Er trotzte der Gefahr und verlor nicht den klaren Kopf. Aber dieses plötzliche Gefühl, willkommen zu sein, die Selbstverständlichkeit der netten Geste, bliesen ihn fast um.
Ganz anders erlebte Margit Rose die vielen Menschen. Von einer plötzlichen Panikattacke ergriffen, flüchtete sie mit Viola auf dem Arm zurück in die Nordsee.
Benjo wählte die Nummer von Chris, während um ihn herum Menschen, die sich von der Virenhysterie nicht hatten anstecken lassen, menschlich handelten.
Sarah Kielinger, die Heilpraktikerin, sah sich den Fuß von Dennis an und sie war erfahren genug, um die einzig mögliche Diagnose zu stellen: »Der Junge muss sofort ins Krankenhaus.«
Schwieriger war es für ihre Freundinnen Petra und Jutta. Sie versuchten Margit Rose dazu zu überreden, aus dem Wasser zu kommen, doch die lief mit ihrer Tochter auf dem Arm immer tiefer ins Meer. Sie hatte Angst, sich in der Dunkelheit den unbekannten Menschen anzuvertrauen.
»Wir tun Ihnen nichts! Laufen Sie doch nicht weg! Sie brauchen keine Angst vor uns zu haben!«
»Haut ab! Kommt bloß nicht näher!«
Chris kannte die Nummer auf dem Display nicht, aber sie nahm das Gespräch sofort an. Etwas sagte ihr: Das ist Benjo.
So stellte sie sich auch nicht wie sonst bei unbekannten Anrufern mit einem vorsichtigen »Ja? Hier Chris …« vor, sondern rief gleich ins Handy: »Benjo?!«
Schon sein Atem sagte ihr, dass er es war. Er konnte vor Glück, ihre Stimme zu hören, zunächst gar nicht sprechen. Aber dann brachte er ein »Ja, ich bin’s …« heraus. Er hörte sich wie ein Beo an, dem man gerade erst das Sprechen beigebracht hatte.
Chris hüpfte vor Freude auf und ab und umarmte ersatzweise Doris Becker, weil ihr Benjo noch zu weit weg war. Dann brüllte sie:
»Ich liebe dich! Verdammt noch mal, ich liebe dich so sehr!«
Tränen liefen über sein Gesicht. Das Mondlicht spiegelte sich darin. Benjo merkte nicht, dass er weinte. Er hatte Chris so viel zu erzählen, er wollte so viel sagen, doch jetzt fehlten ihm selbst die einfachsten Worte.
»Ich hole meinen Wagen
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