Todesbrut
hatte sie noch nie gesehen. Außerdem spürte sie, dass Ubbo Jansen deshalb nicht schoss, weil er die Küstenseeschwalbe nicht erschrecken und damit von seiner Schulter verjagen wollte. Sie beobachtete ihn, wie er ein Ziel erspähte. Er bückte sich, kroch auf allen vieren über den Boden und hob das Tier herunter. Als er sich am Fenster aufrichtete und nach draußen zielte, versuchte die Seeschwalbe, wieder auf seine Schulter zu kommen, was ihr wegen des gebrochenen Flügels schwerfiel.
Niklas Gärtner hielt seinen Sohn Thorsten im Arm und fragte Akki: »Gibt es hier irgendwo Waffen?«
Akki verzog den Mund. »Sehe ich aus, als würde ich eine Waffenkammer verwalten? Wir können uns ein paar Mollies basteln, aber wenn Sie mich fragen, sollte man nicht mit Mollies werfen, solange die eigene Bude brennt …«
Thorsten verstand nicht wirklich, was Akki meinte. Er redete wirres Zeug für ihn. Thorsten versuchte zu begreifen, dass Eddy und vielleicht auch Corinna tot waren. Er fühlte sich schuldig daran und einerseits hätte er seinen Vater gern ins Gesicht geschlagen, weil er alles nur noch schlimmer gemacht hatte, andererseits wollte er unter sein Hemd kriechen und sich bei ihm verstecken. Er wäre am liebsten wieder ein kleiner Junge geworden. Schutzbedürftig und ohne jede Verantwortung für das, was geschehen war.
109 Tim Jansen erreichte seine Mutter im Krisenstab. »Mama, Mama«, flüsterte er, »du musst uns helfen. Wir liegen unter Beschuss. Die haben uns die Bude angezündet. Bitte schick uns Hilfe. Du kannst das doch, Mama, du bist doch die Bürgermeisterin. Bitte lass uns nicht hängen. Alle haben uns hängen lassen …«
»Tim, Tim … Timmi, was ist denn? Ich versteh dich nicht. Kannst du nicht lauter sprechen? Timmi!«
Aber seine Stimme klang zittrig. Es gelang ihm nicht, deutlich zu artikulieren. Er hatte oft den Ausdruck gehört, die Angst würde jemandem den Hals zuschnüren. Jetzt begriff er, was damit gemeint war, denn genauso erging es ihm. Zu mehr als einem leisen Flüstern war er kaum in der Lage.
Erneut peitschte ein Schuss und die Kugel ließ Dachpfannen platzen, die jetzt herunterregneten und auf der Terrasse zersplitterten.
Akki hielt sich die Ohren zu und flehte die Wand an: »Hört auf! Hört doch bitte auf!«
Bürgermeisterin Jansen begriff, dass ihr Sohn wirklich in Gefahr war. Ganz anders, als sie gedacht hatte.
Eine Impfdosis würde ihrer Familie wenig nutzen. Und überhaupt: Wie Eisregen rieselte die Erkenntnis durch ihren Körper, ihre Füße und Finger wurden klamm. Der Südstaatler hatte sie reingelegt. Es gab keinen Impfstoff. Und selbst wenn, er würde ihn ihr nicht liefern. Er hatte einfach nur versucht, Geschäfte zu machen. So wie jetzt jeder in der zusammenbrechenden Ordnung versuchte, zu überleben und seine Schäfchen ins Trockene zu bringen.
Für einen Moment war es, als ob sie in ein Zeitloch fallen würde. Sie hielt den kleinen Timmi im Arm und schaukelte ihn langsam in den Schlaf. Sie sang ihm ein Lied. Nein, sie sang nicht wirklich, sie summte nur für ihn. Lieder, die schon ihre Mutter für sie gesummt hatte.
Sie sah sich als junge Frau mit all ihren Wünschen, Träumen und Sehnsüchten. Mit ihrer Gier nach Leben, ihrer Angst, als Mutter und Frau zu versagen. Ihren Hoffnungen auf einen Lottogewinn und ein schönes Leben.
Tims Stimme holte sie wieder zurück. »Mama? Bitte, beeil dich. Die machen uns fertig.«
»Ist Papa bei dir?«
»Ja klar.«
»Kira auch?«
»Mama …« Er fragte sich wirklich, was sie überhaupt von ihrem Leben wusste. »Mama, sie sitzt irgendwo in Indien fest. Es gibt keine Flüge und … wie sollte sie überhaupt nach Emden reinkommen? Ihr habt doch die ganze Stadt abgeriegelt.«
Kerstin Jansen hörte den Vorwurf in seinen Worten. Mit ihr war vor allen Dingen sie gemeint.
»Ich habe das nicht entschieden«, sagte sie. »Ich bin nur eine von vielen im Krisenstab. Ich …«
»Mama, können wir das nicht später diskutieren? Jetzt brauchen wir Hilfe.«
»Keine Angst, mein Junge. Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht.«
Sie glaubte, dass sie ihrer Stimme einen zuversichtlichen Klang gegeben hatte, doch Tim kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie keine Ahnung hatte, wie sie ihrem Sohn und seinem Vater am besten helfen sollte.
Am liebsten hätte sie ständig Kontakt mit ihm gehalten, aber sie musste das Gespräch jetzt beenden. Er sollte nicht hören, was nun im Krisenstab geschah.
Kaum hatte sie aufgelegt,
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