Todesbrut
Schrei geöffnet. Seine Lippen zitterten.
Sie registrierte sofort, dass er nicht sie sah, sondern irgendetwas anderes. Ein Monster. Den schwarzen Mann. Eine Schreckensfigur aus seiner Kindheit. Denn dieser Mann fürchtete sich. Er hatte Todesangst und kroch auf dem Rücken liegend von ihr weg.
Jetzt sah sie, was er in die Tür geritzt hatte. Das da sollte vermutlich ein Mensch sein, wahrscheinlich eine Frau. Es erinnerte sie an Schmierzeichnungen auf Jungentoiletten, die sie bei ihren Ferienjobs als Putzfrau nur zu oft hatte säubern müssen.
Dann fand sie ihren Bruder.
Ihr Magen krampfte sich zusammen. Obwohl sie seit Stunden nichts gegessen hatte, befürchtete sie, sich gleich übergeben zu müssen. Aber dann stieß sie nur säuerlich auf.
Ihr Verstand hämmerte die Botschaft durch ihren Körper: Dein Bruder ist tot und du bist mit diesem Verrückten alleine. – Vielleicht hat er ihn sogar umgebracht!
Sie zitterte. Mit jedem Versuch, das Zittern zu bekämpfen, machte sie es nur noch schlimmer.
113 Der Wind drehte und drückte den Qualm durch die zerschossenen Fensterscheiben in den Raum. Josy lief gebückt ins Bad, um nasse Tücher zu besorgen. Dabei schreckte sie die Küstenseeschwalbe auf. Sie flüchtete vor ihr wie vor einem schlimmen Feind und versuchte, an ihr vorbei zu Ubbo Jansen zu kommen.
Tim verzog den Mund. Seine Lippen zitterten. »Meine Mutter kommt nicht. Sie hat gelogen. Sie lässt uns im Stich.«
Es tat ihm weh, die Worte auszusprechen. Er schlug dabei mit dem Kopf nach hinten gegen die Wand. Der Schmerz tat ihm gut. Er wiederholte die Bewegung noch zweimal. Aufmerksam geworden, kroch Niklas Gärtner zu ihm und versuchte, ihn zu beruhigen.
»Natürlich kommt deine Mutter. Sie hat bestimmt nur Probleme, bei dem Chaos zu uns durchzukommen.«
»Halten Sie die Schnauze! Sie kennen meine Mutter doch gar nicht!«, schrie Tim. »Die kommt nicht!«
»Doch, ich kenne sie!« Niklas Gärtner hustete. Seine Augen brannten vom Qualm. »Jeder kennt sie. Sie ist die Bürgermeisterin.«
Tim stieß Niklas Gärtner von sich, als sei er die Verkörperung seiner Mutter.
»Ja, genau! Als Bürgermeisterin! Jeder kennt sie, für jeden ist sie da! Für alles hat sie Zeit, bloß nicht für uns! Alle anderen sind immer wichtiger!«
»Du musst Verständnis haben. Sie hat jetzt viel zu tun. Dies ist die größte Krise, in der die Stadt je war. Sie ist jetzt als Bürgermeisterin gefordert.«
»Verständnis? Ich will kein Verständnis mehr haben! Ich bin ihr Sohn! Boah, äi! Wie ich diese Scheiße hasse! Diese ganze, schreckliche Stadt! Was haben wir jetzt davon, dass sie sich dafür aufgeopfert hat? Sie hat sich immer toll dabei gefühlt und wichtig, weil sie gebraucht wurde! Aber was ist mit mir? Bin ich nichts?«
»Hört endlich auf, euch zu zanken!«, schrie der entnervte Akki.
Justin schwankte hin und her, als wäre er ein Autist. Er schien durch alle hindurchzusehen, als sei da noch eine Zwischenwelt.
Als würde der Qualm den Kugeln den Weg weisen, so schlugen sie jetzt hinter Tim in die Wand ein.
Josy kam mit ihren nassen Handtüchern zurück. Das erste war für Tim. Sie warf es ihm zu. Es klatschte in sein Gesicht.
Er band es sich nicht vor Nase und Mund, sondern ließ es einfach auf den Boden fallen. Viel zu schlimm waren die Wut und die Trauer über das Verhalten seiner Mutter, von der er sich im Stich gelassen fühlte.
Die Polizeisirene und das Blaulicht genügten, um die Schützen rings um die Farm zu vertreiben. Es war kein großer Einsatz vonnöten, keine Schießerei. Allein, dass die Ordnungskräfte sich zeigten, ihr Martinshorn zu hören und ihr Fahrzeug von fern zu sehen war, reichte aus.
In dem Mannschaftswagen saßen nur zwei Personen: Polizeirat Ludger Schneider und neben ihm Bürgermeisterin Jansen.
Sie hielten in gebührendem Abstand vor dem Eingang der Hühnerfarm. Die ganze Anlage sah aus wie eine brennende, sturmreif geschossene Festung. Der Wind fegte die Straße, als sei es seine Aufgabe, aus dem Qualm ein neues Gebäude zu formen, eine Art Hut, der spitz hoch hinauf in den Himmel ragte.
Ein paar Hühner flatterten auf die Kühlerhaube des Wagens und pickten mechanisch nach den nicht vorhandenen Körnern.
Polizeirat Ludger Schneider und Bürgermeisterin Jansen sahen keinen einzigen der Schützen mehr, so rasch hatten sie sich verzogen. Kerstin Jansen stieg aus und wollte ins Wohnhaus, doch Schneider hielt sie fest. Sie sah ihn nur an. Er hatte sofort einen Kloß im
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