Todesbrut
dem Weg zum Supermarkt erwartete, und sie wollte die Kinder keiner Gefahr aussetzen.
Sie wusch sich kurz das Gesicht, kämmte sich mit den Fingern die Haare und gurgelte mit einem Mundwasser. Dann trank sie auf Drängen von Jüthe ihre Kaffeetasse leer, und bevor sie mit einem Einkaufskorb die Wohnung verließ, verdonnerte sie Leon dazu, aus dem feuchten Schlafanzug zu steigen und sich trockene Sachen anzuziehen.
116 Die Stadt war merkwürdig ruhig. Die Menschen hielten sich in ihren Wohnungen auf, nur wer gar nicht anders konnte, verließ den Schutz seiner eigenen Räume.
Die Straße lag breit und menschenleer vor Bettina Göschl. Nicht ein einziges Autogeräusch war zu hören.
Irgendwo im Viertel, vermutlich zwei Häuserblocks weiter, jaulte eine Polizeisirene.
Bettina ging langsam, heiter, leichtfüßig tänzelnd in Richtung Supermarkt. Sie kam an der Apotheke vorbei. Sie sah durch die zerstörten Scheiben und glaubte zunächst, dass darin jemand aufräumte und die aus den Regalen geworfenen Packungen neu sortierte. Aber als sie von innen gesichtet wurde, huschte eine Gestalt schnell hinter die Theke und versteckte sich dort. Ein Plünderer. Was sonst! Bettina konnte sich kaum vorstellen, dass es sich um den Besitzer oder einen Angestellten handelte.
Sie bog um die Ecke ab und sah eine Menschentraube vor dem Eingang des Supermarkts. Vorsichtig bewegte sie sich auf die Gruppe zu. Sie hielt gebührenden Abstand, weil sie nicht wusste, was mit den Leuten los war. Sie wirkten ziemlich aufgeregt.
»Da stehen die Öffnungszeiten!«, rief ein blonder Lockenkopf und tippte mit dem Finger gegen die Beschriftung an der Eingangstür. »Öffnungszeiten 8 Uhr 30 bis 22 Uhr. Jetzt ist es 9 Uhr 15. Wie lange wollen wir denn noch warten? Die kommen einfach nicht.«
Der Lockenkopf konnte eine hagere Frau oder ein Marathon laufender Mann sein. Er hatte etwas Androgynes. Selbst seine Stimme war nicht eindeutig männlich oder weiblich. An seinem Körper schlotterte ein zwei Nummern zu großer Adidas-Trainingsanzug. Nur die Schuhe verrieten Bettina, dass es sich um einen Mann handelte.
Keine Frau würde freiwillig so unvorteilhafte Schuhe anziehen, dachte sie.
Er wurde von einem glatzköpfigen Kugelbauch mit »Michi« angeredet. Wieder nicht eindeutig, dachte Bettina. Michi kann die Abkürzung für Michael oder für Michaela sein.
Eine ältere Dame schimpfte: »Da drin ist noch alles dunkel! Die kommen heute überhaupt nicht. Kein Wunder, in den Nachrichten haben sie gesagt, wer kann, soll zu Hause bleiben. Auch alle Schulen und Kindergärten sind geschlossen.«
»Die haben Angst, sich anzustecken«, folgerte Michi und ließ seine Faust mehrfach gegen die Scheibe krachen.
»Ich muss für meine Enkelkinder was zu essen holen. Mein Kühlschrank ist leer und in meiner kleinen Wohnung sind im Moment acht Personen. Ich muss mich um alle kümmern, ich …«
Ein BMW rauschte heran, als wollte er in die Menge fahren, bremste aber kurz vorher ab. Der Fahrer lehnte sich aus dem Fenster und rief: »Na, haben sie hier auch zu? Das ist doch alles eine verdammte Scheiße! Ich war schon an drei Supermärkten. Alles dicht!«
»Ein Supermarkt hat auch die Verpflichtung, die Bevölkerung zu versorgen«, sagte der Glatzkopf trocken und bückte sich nach einem Stein.
»Nicht! Sie können doch nicht einfach …«
Schon krachte der Stein gegen die große Scheibe in der Eingangstür. Sofort entstand ein langer Riss, der Stein aber federte zurück, als sei er gegen eine Gummiwand geworfen worden.
Das war dem Glatzkopf offensichtlich peinlich.
Fast triumphierend hob Michi den Stein auf und sagte: »Lass mich mal.«
Er holte aus und schleuderte ihn gegen die Scheibe. Diesmal brach sie.
Bettina rechnete damit, dass jetzt ein Alarm losgehen würde. Das geschah aber nicht.
Michi machte eine geradezu königliche Geste, verbeugte sich vor der alten Dame, wies auf das Scherbenloch und sagte: »Unser Geschäft hat für Sie geöffnet. An diesem besonderen Tag kann ich Ihnen leider keine frischen Backwaren bieten, dafür haben wir aber heute Getränke zum halben Preis!«
Irgendjemand klatschte Beifall. Die Menschentraube löste sich auf und die Leute verschwanden im Supermarkt zwischen den Regalen.
Der BMW-Fahrer verließ sein Auto, rieb sich die Hände und lachte: »Na bitte! Das ist doch endlich mal eine Aktion! Die können mit uns doch nicht machen, was sie wollen! Erst lassen sie uns nicht raus und dann gibt’s keine Lebensmittel mehr,
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