Todesbrut
übernachtet und die Stimmung heute war auf dem absoluten Nullpunkt, schwankte zwischen latenter Aggression und offener Feindseligkeit.
An der nächsten Kreuzung vereinigte sich der Demonstrationszug mit einem weiteren. Carlo erfuhr von einem pausbäckigen Revolutionär, dass im Internet zu dem Sternmarsch aufgerufen worden war. Die einen wollten ihrem Unmut Luft machen, die anderen strebten die offene Konfrontation mit den Sicherheitskräften an und hatten sich vorsichtshalber vermummt. Doch niemand nahm das ernst, weil seit gestern ein Atemschutz bei den meisten Menschen genauso zur Kleidung gehörte wie ein Paar Schuhe.
Der Pausbäckige war kurzatmig und sprach in abgehackten Sätzen. Er hatte angeblich versucht, im Morgengrauen mit einer Gruppe beim Schöpfwerk an der Knock den Ring um Emden zu durchbrechen. Von dort wollten sie in die Krummhörn flüchten. Aber sie seien auf massive Militärkräfte gestoßen, mit denen nicht zu spaßen gewesen sei.
Carlo Rosin rang mit sich, er dachte an Bettina Göschl und den kleinen Leon. Sollte er die Demonstration verlassen und zu den beiden gehen? Er fragte sich, wie es ihnen wohl ging. Aber dann ließ er sich von den skandierenden Rufen treiben. Etwas peitschte ihn hier im Vorwärtsschreiten auf und es tat ihm gut. Er fühlte sich zugehörig und doch »einzeln und frei wie ein Baum«. Diese Gedichtzeile von Nazim Hikmet, gesungen von Hannes Wader, stieg hymnisch in ihm auf. Er begann ganz gegen seine Gewohnheit laut zu singen, so wie damals beim Konzert: »Leben einzeln und frei, wie ein Baum und dabei brüderlich wie ein Wald, diese Sehnsucht ist alt …«
Eine blonde junge Frau hakte sich bei ihm ein. »Ich heiße Birte«, sagte sie, »und du?«
Sie zwinkerte ihm komplizenhaft zu und sang mit. Aus dem Augenwinkel sah Carlo, dass Steffen Blockmann ihn beobachtete, und es schien, als kochte er innerlich vor Neid.
118 Die Museumsschiffe lagen friedlich im Delft. Zwei Familienväter versuchten, das Hafenrundfahrtschiff zu kapern. Da keine Besatzung an Bord war, fiel es ihnen leicht, aber sie schafften es nicht zu starten. Dann brachten sie ihre Familien an Bord und machten das Boot los. Mit Stangen versuchten sie, es von der Delfttreppe wegzudrücken.
Die Menschen vor dem Rathaus wollten die Bürgermeisterin sprechen.
»Jansen, sei so nett, komm doch mal ans Fensterbrett!«, reimten ein paar Schüler aus dem Deutsch-Leistungskurs.
Aus der Demonstration in der Innenstadt war eine Revolte geworden. Militante Teilnehmer hatten die Oberhand gewonnen. Die Nachricht, dass ein Waffengeschäft von Aufständischen geplündert worden war, erreichte den Krisenstab zunächst über n-tv, dann als erste kurze mündliche Meldung übers Handy von Ulf Galle. Jetzt stürmte Ulf in den Raum, sah die betroffenen Gesichter und wusste zunächst nicht, bei wem er sich die Erlaubnis einholen musste zu reden.
Der Vertreter der Sparkasse sagte fast belustigt: »Eines Tages werden wir uns den Weltuntergang im Fernsehen anschauen, wenn er beginnt, so kann man wenigstens live dabei sein.« Aber für seinen Galgenhumor hatte im Moment niemand Verständnis.
Ulf Galle meldete sachgemäß: »Die Aufständischen haben sich bewaffnet. Es sind mindestens fünfundzwanzig Gewehre und fast fünfzig Faustfeuerwaffen entwendet worden. Sie sollen zigtausend Schuss Munition mitgenommen haben und ein paar Macheten, Samuraischwerter und Leuchtspurgeschosse.«
Der stellvertretende Verwaltungsdirektor der Stadt versuchte – zum wievielten Mal eigentlich? –, das Handy der Bürgermeisterin zu erreichen. Er hätte sie in den letzten Jahren zigmal ersetzen können und hätte fast alles besser gewusst und klüger entschieden als sie, aber er kam nicht zum Zug und genau jetzt, in dieser verdammten Situation, ließ sie alle im Stich und kümmerte sich um ihre privaten Dinge. Nein, er wollte ihr jetzt nicht die Verantwortung abnehmen. Sie musste in die Entscheidungen eingebunden werden, doch Kerstin Jansen meldete sich nicht mehr.
Polizeichef Burmeester berichtete, er habe die Information, dass sie sich weigere, die Hühnerfarm zu verlassen. Sie habe beim Anblick ihres Sohnes eine Art Nervenzusammenbruch erlitten.
Es gab ein paar Leute im Krisenstab, die hinter vorgehaltener Hand etwas ganz anderes vermuteten. War es nicht vielmehr so, dass die Bürgermeisterin sich mit den fünf Millionen aus dem Staub gemacht hatte? Ihr Ex galt als hoch verschuldet. Hatten sie sich vielleicht nur pro forma scheiden
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