Todesbrut
zusammenhängende Dinge sehen. Das Stakkato von Bildern ist vorbei.«
Frau Dr. Husemann sprach sehr leise. »Ja, es geht einigen Patienten so. Wer das Fieber überstanden hat, scheint durch zu sein. Entweder die Leute sterben in der ersten Nacht oder sie haben es geschafft.«
»Und was heißt das jetzt?«
»Trinken Sie so viel wie möglich.« Frau Dr. Husemann hüstelte. »Flößen Sie den Kindern Wasser ein, damit das Gift aus dem Körper gespült werden kann, Frau Göschl. Viel mehr können Sie jetzt wirklich nicht tun, außer ihnen gut zu essen zu geben, damit sie Kraft gewinnen.«
»Denken Sie, ich hatte das Virus auch? Sind wir jetzt immun dagegen?«
»Das kann Ihnen niemand mit Sicherheit sagen. Gegen dieses spezielle Virus sind Sie und Leon vermutlich immun. Aber schon eine kleine Mutation reicht aus und …«
»Wir können also wieder unter Leute, ohne uns neu anzustecken?«
»Ja, ich glaube, schon.«
Bettina nahm einen Schluck von dem heißen Kaffee. Er war viel zu stark, aber das wollte sie Jüthe jetzt nicht sagen. Sie strich ihr übers Haar und nickte ihr augenzwinkernd zu, so als hätte sie noch nie im Leben einen besseren Kaffee getrunken.
Jüthe nahm das dankbar zur Kenntnis und zeigte ihr den erhobenen Daumen.
Entweder, dachte Bettina Göschl, verdrängt sie den Tod ihrer Mutter perfekt oder sie überspielt die Situation nur. Ihre Seele schien irgendeine Möglichkeit gefunden zu haben, sich vor dem Grauen zu schützen – was es Jüthe erlaubte, sich auf das Frühstück zu freuen.
Bettina wollte das Telefongespräch beenden, um den Kindern Nutella und Cornflakes zu besorgen. Sie sollten genau das bekommen, was sie sich wünschten; der Supermarkt war ja nicht weit. »Also …«, sagte sie, »Sie haben ja bestimmt genug zu tun …«
Doch Frau Dr. Husemann hatte noch eine Frage: »Warten Sie, Frau Göschl, Moment noch. Sind Sie und die Kinder gegen Grippe geimpft worden?«
»Ja«, sagte Bettina, »also, ich auf jeden Fall. So viele Auftritte, die ich jedes Jahr habe, so viele Kinderhände, die ich schüttle – und ich mache meine Tourneen mit Bus und Bahn –, da werde ich von allen Viren und Bakterien attackiert, die es nur gibt. Deswegen hole ich mir jedes Jahr im Herbst die ganz normale Grippeimpfung. Warum fragen Sie?«
»Und die Kinder?«
Bettina wandte sich an Leon, der inzwischen im Badezimmer stand und sich die Zähne putzte, weil er behauptete, einen unerträglichen Geschmack im Mund zu haben, den könne man nur mit Cornflakes oder Zähneputzen beseitigen.
Jüthe fügte hinzu: »Mit Nutella geht es aber auch.«
Bettina schmunzelte.
»Leon, weißt du, ob du eine Grippeimpfung bekommen hast?«
»Ja, klar. Meine Mama und ich, wir holen uns die jedes Jahr.«
»Ich auch«, rief Jüthe, »schon, weil mein Papa immer dagegen war. Meine Mama macht so ziemlich alles, was meinem Papa nicht passt.«
»Haben Sie mitgehört, Frau Dr. Husemann? Die Kinder sind wie ich gegen die normale Grippe geimpft. Warum fragen Sie?«
»Vielleicht ist da ein Zusammenhang, Frau Göschl. Alle meine Patienten, die es bis jetzt überstanden haben oder die erst gar nicht infiziert wurden, haben seit mehreren Jahren einen Grippeschutz aufgebaut. Ich vermute, dass die Krankheit dadurch einen weniger schweren Verlauf nimmt und nicht tödlich endet. Vielleicht erkennt der Körper die Viren rascher, weil sie den normalen Grippeviren ähneln. Das ist aber nur eine Vermutung von mir. Wie auch immer, seien Sie froh. Sie haben es geschafft, alle drei.«
»Und wie geht es Ihnen?«
Frau Dr. Husemann lachte gekünstelt. »Hervorragend. Ich bräuchte drei Wochen Urlaub und zu Beginn achtundvierzig Stunden Schlaf. Aber ich fürchte, ich habe einen der schlimmsten Arbeitstage meines Lebens vor mir.«
Bettina wünschte der Ärztin viel Erfolg und viel Kraft. Sie fand, dass ihre Sätze hohl klangen, doch ihr fielen keine besseren ein. Gleichzeitig tobte in ihr eine ungeheure Freude. Sie hatte befürchtet, krank mit zwei toten oder sterbenden Kindern in der Wohnung sein zu müssen. Und nun schien sich das Blatt zum Guten zu wenden.
Am liebsten hätte sie geduscht, sich die Haare gewaschen, in Ruhe ihren Kaffee getrunken und dann die Wünsche der Kinder erfüllt. Doch sie wusste, so ging das jetzt nicht. Die Kinder drängten auf ihr Lieblingsfrühstück.
Bettina fragte sich kurz, ob es richtig war, die beiden allein zu lassen, aber sie fand es auf jeden Fall besser, als sie mitzunehmen. Sie wusste nicht, was sie auf
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