Todesbrut
Hals.
»Sie wollen doch da nicht so einfach reinrennen? Wir wissen doch gar nicht, was uns da erwartet!«
»Lassen Sie mich los! Da drin ist mein Sohn! Der kann nicht laufen, er sitzt im Rollstuhl, er …«
Schneider hielt sie unbeirrt fest. »Wenn Sie da jetzt einfach planlos reingehen, brauchen Sie vielleicht selbst bald Hilfe.«
Sein Griff war hart. Er hätte sich nie träumen lassen, dass er der Bürgermeisterin einmal so nah kommen würde. Er hielt sie eigentlich für eine arrogante Karrieristin, die einen harten Sparkurs fuhr. Aber in den letzten Stunden hatte sie ihn mit ihrer unkonventionellen Art beeindruckt.
Er drehte ihr den Arm auf den Rücken. »Bitte, machen Sie es mir jetzt nicht so schwer, Frau Jansen. Geben Sie mir wenigstens eine Chance. Ich muss versuchen, das hier vorschriftsmäßig zu regeln.«
Sie wiederholte: »Vorschriftsmäßig!«, als sei das der beste Witz, den sie seit Jahren gehört hätte.
Über den Lautsprecher machte er eine Durchsage: »Achtung, Achtung, hier spricht die Polizei! Wenn Sie noch im Gebäude sind, geben Sie Laut! Herr Jansen, wo sind Sie? Können Sie zu uns herauskommen? Sie brauchen keine Angst zu haben, niemand wird auf Sie schießen! Hier spricht die Polizei! Wir sind gekommen, um Ihnen zu helfen!«
Ubbo Jansen hielt das Ganze für einen Trick. »Für wie blöd haltet ihr uns eigentlich?«, rief er angriffslustig aus dem Fenster. Seine Exfrau konnte er nicht sehen.
Polizeirat Schneider hielt die Information, dass sich die Bürgermeisterin bei ihm befand, bewusst zurück. Wer sagte ihm denn, dass da im Gebäude tatsächlich ihr Sohn und ihr Mann waren? Und selbst wenn, vielleicht waren sie längst zu Geiseln geworden. Nein, auf keinen Fall wollte er Frau Jansen gefährden. Er fühlte sich für sie verantwortlich. Drinnen im Haus wurde gestritten.
»Die haben ein richtiges Blaulicht und eine Polizeisirene«, stellte Thorsten Gärtner fest. »Die sind echt.«
»Ja, kann schon sein, dass sie echt sind. Aber wer sagt denn, dass sie auf unserer Seite stehen? Wie doof ist die Jugend heute eigentlich?«, fauchte Ubbo Jansen.
»Das Schießen hat aufgehört. Die sind geflohen, weil die Polizei gekommen ist …«
»Ja, und vor Kurzem hast du noch an den Weihnachtsmann geglaubt und an den Osterhasen. Aber ich nicht, Junge.«
Thorsten Gärtner versuchte, die Beleidigungen zu überhören. Für ihn war Ubbo Jansen ein störrischer alter Mann. Zornig und ungerecht.
»Klar stehen die auf unserer Seite. Glauben Sie, die Polizei stürmt ein Gebäude und erschießt alle Leute?«
Ubbo Jansen schlug nach Thorsten und brüllte ihn an: »Bis vor Kurzem hätte ich auch nicht gedacht, dass der Sohn von unserem Versicherungsheini mit seinem Vater kommt, um uns die Hütte anzuzünden!«
»Mein Vater ist kein Versicherungsheini, sondern Diplom-Betriebswirt Gesundheitsmanagement!«
»Ja, klasse!« Ubbo Jansen lachte.
Da klingelte Tims Handy. Seine Mutter war am Apparat.
»Tim? Wir sind hier. Ich bin gekommen. Kann ich zu euch rein oder schafft ihr es alleine, herauszukommen?«
»Sie ist da!«, schrie Tim, fassungslos vor Glück.
Er hörte im Hintergrund die Stimme eines Mannes: »Wenn das nur kein Fehler war, Frau Jansen. Sind Sie sicher, dass das Ihr Sohn ist?«
»Na, hören Sie mal, ich kenne doch seine Stimme!«
Tim brüllte aus dem Fenster: »Wir sind hier!«
»Siehst du«, sagte Niklas Gärtner. »Sie ist doch gekommen.«
Ubbo Jansen guckte, als könne er mit dem Besuch wenig anfangen. Freude über Hilfe sieht anders aus, dachte Josy.
114 Als Dr. Maiwald erwachte, war er nicht im Himmel, sondern in der zum Sterbezimmer umfunktionierten Abstellkammer der Inneren Abteilung des Susemihl-Krankenhauses. Gedankenverloren knibbelte er an den getrockneten Eisflecken auf seinem Bettlaken. Es war, als machten seine Finger sich selbstständig, als würden sie nicht zu ihm gehören. Er beobachtete sie und staunte. Er fühlte sich leicht und er war guter Laune. Er hatte einen tierischen Hunger, am meisten freute er sich auf eine gute Portion Nachtisch.
Dr. Maiwald tastete mit der pelzigen Zunge den trockenen Gaumen ab. Er hätte jetzt sein Auto gegen eine Tasse Kaffee und eine Marzipanschnecke eingetauscht.
Ich lebe, dachte er. Ich lebe!
Dieses Scheißvirus war also nicht für jeden und in jedem Falle tödlich. Das Tamiflu hatte ihm nicht geholfen, davon ging er aus. Aber der Wissenschaftler in ihm wollte sofort noch mehr Fakten. Wie viele Leute hatten außer ihm
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