Todesbrut
während hier in den Regalen alles verschimmelt. Die spinnen doch! – Was ist, junge Frau? Warum zögern Sie?«, fragte er Bettina.
»Na ja, ich meine … Das ist doch im Grunde Diebstahl.«
»Diebstahl? Ich will Brötchen holen. Aufschnitt. Ich mache das jeden Morgen. Ich bezahle immer. Ich würde auch heute gerne bezahlen. Aber wo denn? Es ist niemand da. Wir werden uns nehmen, was wir brauchen, wie immer. Und wenn niemand an der Kasse sitzt, dann hat der Supermarkt eben Pech gehabt. Soll ich deswegen meine Kinder hungern lassen?«
Seine Argumentation hatte etwas Schlüssiges, fand Bettina und stieg durch die Eingangstür den anderen Menschen hinterher.
Eigentlich, überlegte sie, haben wir ja noch genug zu essen. Ich könnte die Kinder ein paar Tage versorgen. Aber sie wollen so gerne Cornflakes und Nutella. Soll ich ihnen diesen Wunsch jetzt nicht erfüllen? Sie haben so viel durchgemacht.
Zwei Frauen stritten sich darüber, ob es Sinn mache, Sonderangebote zu stehlen oder lieber die teuren Sachen.
»Ich nehme immer die Sonderangebote!«, rief die in der rosa Jogginghose.
Da Bettina sich in dem Supermarkt nicht auskannte, musste sie suchen, bis sie das Cornflakesregal fand. Sie holte auch noch Milch, Joghurt und natürlich Nutella.
Dann stand sie vor den Kassen. Am liebsten hätte sie eine davon geöffnet und Geld hineingelegt. Sie versuchte es.
Während sie sich an der Kasse zu schaffen machte, hielt draußen ein Polizeiauto und zwei Beamte betraten über die knirschenden Scherben das Geschäft.
Bettina zuckte zusammen. Wie musste das, was sie gerade machte, für die Polizisten aussehen? Ganz so, als ob sie versuchen wollte, die Kasse aufzubrechen.
Sie stammelte eine Entschuldigung: »A … also, ich wollte hier Geld reinlegen. Ich …«
Der Beamte winkte ab. »Ach, junge Frau, nehmen Sie sich aus den Regalen, was Sie brauchen. Betrachten Sie das als so eine Art Selbstbedienung. Ich mache das auch.« Er rieb sich das rechte Auge, als hätte er ein Sandkorn darin. »Ich bin seit vierundzwanzig Stunden auf den Beinen. Wir haben die ganze Nacht unter mörderischen Bedingungen gearbeitet, und jetzt soll es nichts zwischen die Kiemen geben? Meine Kollegen und ich, wir bauen so langsam ab. Man kann nicht nur arbeiten, man braucht auch ein bisschen Energiezufuhr …«
»Heißt das, Sie sind auch gekommen, um sich einfach zu holen, was Sie …«
»Natürlich. Jeder macht das.«
Sein Kollege schien aber nicht ganz der gleichen Meinung zu sein. »Diebstahl bleibt Diebstahl«, sagte er. »Gerade in solch chaotischen Verhältnissen muss man aufpassen, dass …«
»Ach, halt’s Maul, du Kleinigkeitenkrämer! Dann geh doch raus und dreh Däumchen. Ich hol mir jetzt hier erstens meine Zigaretten und zweitens unterzuckere ich, wenn ich nicht bald …«
»Tammo, wenn du jetzt hier mitmachst, muss ich das weitermelden!«
»Hör doch auf! Guck dich doch mal um! Sind das hier etwa randalierende Jugendliche? Das sind brave Familienväter! Das sind Muttis und Omis, die ihre Kinder und Enkelkinder versorgen wollen. Du liebe Güte! Ich kann ja einen Gutschein ans Schwarze Brett nageln: Hier hat sich Tammo Behrends zwei Packungen Marlboro geholt und eine Rolle DeBeukelaer-Kekse brauchte er auch ganz dringend.«
Die Frau in der rosa Bluse wandte sich an Michi.
»Ich krieg hier die Tür nicht auf. Die Fleischtheke ist ganz leer. Können Sie mir vielleicht helfen?«
»Kein Problem«, antwortete Michi. »Unser Laden ist ab jetzt vierundzwanzig Stunden für Sie da. Unser freundliches Servicepersonalholt Ihnen gerne auch ein paar Filetsteaks aus der Kühlhalle.«
Plötzlich ging ein Alarm los. Das schrille Geräusch machte die Menschen nervös und brachte Hektik in die Situation.
»Tammo, ich fordere dich zum letzten Mal auf …«
Doch der brüllte seinen Kollegen an: »Ich kann dich nicht verstehen! Die Alarmanlage ist so laut!«
»Tammo, wir arbeiten seit fünf Jahren zusammen. Wir sind Freunde. Aber du entehrst unsere Uniform und …«
Tammo Behrends packte seinen Kollegen am Kragen und schüttelte ihn. »Freunde sind wir, ja? Wenn wir Freunde sind, dann wirst du doch bestimmt eines kapieren: Ich habe diese Scheißuniform die ganze Nacht nicht ausgezogen. Ich hätte bei meiner Frau sein müssen. Ich hatte Angst, dass sie stirbt. Ich dachte, ich sehe sie nicht lebend wieder. Aber ich habe versucht, meine Pflicht zu erfüllen. Und jetzt, wo sie dieses Fieber überstanden hat, wünscht sie sich von mir ein bisschen
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