Todesbrut
knirschte er mit den Zähnen, so laut, dass Ulf Galle erneut erschrocken zu ihm hinsah.
Seit dem Gammelfleisch-Skandal – dem er im Grunde seine Anstellung verdankte, weil unter dem Druck der Öffentlichkeit die Kontrollinstanzen gestärkt werden mussten und der Stellenabbau zumindest für kurze Zeit gestoppt wurde – aß er nur noch selten Fleisch. Er hatte zu viel gesehen. Es würgte ihn manchmal, wenn er Menschen ein Mettbrötchen essen sah. Aber etwas veränderte sich gerade. Eine Art Kauwut packte ihn. Er musste sich beherrschen, um nicht in das Leder des Lenkers zu beißen.
Carlo holte tief Luft. »Am liebsten«, sagte er, »am liebsten würde ich diesem wild gewordenen Hühnerzüchter mit einem Sonderkommando der Kripo auf die Pelle rücken und bei ihm nach dem Rechten sehen. Der hat garantiert Dreck am Stecken.«
»Vermutlich wird uns gar nichts anderes übrig bleiben. Irgendwie muss der Anspruch des Staates durchgesetzt werden. Sonst macht hier jeder, was er will. Aber das können wir nicht entscheiden.«
»Und was machen wir jetzt?«
Ulf Galle räusperte sich. »Nun, ich schreibe einen Bericht und dann …«
Als würde er zu einer dritten Person im Auto sprechen, sagte Carlo Rosin: »Klar, er schreibt einen Bericht. Was denn sonst. Ich glaub es nicht …« Dann schrie er ungehalten: »Ja, wer soll den denn lesen? Warum schreiben wir nicht gleich an den Weihnachtsmann oder das Christkindchen?! Herrgott, es ist nicht die Zeit für solche Bürokratenspielchen.«
»Ach nein? Was für eine Zeit ist denn jetzt?«, fragte Ulf Galle scharf zurück.
Carlo Rosin schwieg und starrte auf eine Horde Kinder, die, als Piraten verkleidet, Holzschwerter schwingend die Kreuzung überquerten. Ihre Ampel zeigte Rot. Sie zwangen Carlo, bei Grün zu halten. Er sah ihre Totenkopffahnen und Kopftücher und sie kamen ihm wie ein düsteres Zeichen vor.
17 Tim Jansen verfolgte gebannt die Nachrichten der sich widersprechenden Fernsehsender.
Der Verteidigungsminister war noch in Afghanistan, aber allein die Tatsache, dass er vorzeitig zurückgerufen worden war, verdeutlichte den Ernst der Lage.
Krisenstäbe tagten in Bund und Ländern rund um die Uhr. Doch die Nachrichten von dort tröpfelten spärlich und das wenige brachte die Gerüchteküche zum Kochen. Eine Pressekonferenz der Bundesregierung wurde angekündigt und wieder verschoben. Emden, Norden, Norddeich und Wilhelmshaven waren angeblich abgeriegelt worden. Ein Hotel in der Nähe des Kölner Flughafens unter Quarantäne gestellt. Sämtliche Schulen und Kindergärten in Niedersachsen und Bremen sollten geschlossen bleiben. In Bayern entschieden angeblich die Schulen in enger Abstimmung mit den Eltern und den Gesundheitsämtern eigenverantwortlich, was zu tun sei.
Vor Emden waren laut Augenzeugen Militärbewegungen zu beobachten, doch ein Polizeisprecher dementierte einen aktuellen Bundeswehreinsatz. Man habe die Lage mit rein polizeilichen Mitteln im Griff, aber Verstärkung aus Oldenburg und Hannover angefordert. Er nutzte die Gelegenheit, um noch einmal darauf aufmerksam zu machen, dass zahlreiche Polizeiinspektionen in Niedersachsen notorisch unterbesetzt seien.
Ärzte, Forschergruppen, Spezialisten und Hilfskräfte waren in die Krisengebiete unterwegs. Ja, Tim hatte sich nicht verhört. Das Wort »Krisengebiete« war gefallen. Nicht für ein Land in Afrika, dessen Hauptstadt niemand kannte, nicht für ein Erdbebengebiet, und nein, es folgte auch kein Spendenaufruf für Not leidende Bevölkerungsgruppen. Die Rede war von beliebten Touristenzielen an der Nordsee.
Tims Video-Tagebuch hatte in den letzten sechzig Minuten mehr Anklicker als in den letzten Jahren gehabt. Mehr als vierhunderttausend Menschen sahen, wie sein Vater Carlo Rosin und Ulf Galle die Meinung geigte.
Der Nachrichtensender n-tv übernahm die Bilder und sendete sie im Halbstundentakt als Kommentar zur aufgeheizten Stimmung im Land.
In Köln holten Männer in Astronautenanzügen – fast war das Bild schon gewohnt – Wellensittiche aus Privatwohnungen und vergasten sie. Heulende Kinder brüllten ihnen Beschimpfungen hinterher.
Eine Geflügelausstellung in Nürnberg wurde wegen einer Bombendrohung geschlossen.
18 Die langweiligen Reden auf das Jubelpaar zur goldenen Hochzeit hielt der Strafverteidiger André Müller nicht länger aus. Er ging zur Toilette, setzte sich bequem auf den Deckel und las die E-Mails auf seinem Blackberry. Dann klickte er n-tv an und sah seinen Schwager
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