Todesbrut
Temperatur auf das Virus zurückzuführen.
Die Zahl der Toten, so der Sprecher, werde inzwischen weltweit mit etwa zehntausend angegeben, wobei die Dunkelziffer vermutlich viel höher sei, weil viele, die vom Killervirus getötet worden seien, sicher nicht als Grippetote registriert worden waren. Dem widersprach ein anderer Wissenschaftler, der vor jeder Hysterie warnte und die nachgewiesenen Todesfälle auf einhundertundzwölf bezifferte. Mit der berüchtigten Spanischen Grippe von 1920 könne man das alles nicht vergleichen, damals seien auch nicht siebzig Millionen oder gar hundert Millionen Menschen an der Seuche gestorben, wie vielfach behauptet, sondern »nur« zwanzig bis dreißig Millionen, den Rest habe Hunger und mangelnde Hygiene dahingerafft.
Eberhard Thiele hatte ein Ohr für diese Meldungen. Verständnislos blickte er auf seine Frau, die auf dem Boden herumkroch; er hatte nicht wirklich mitbekommen, was geschehen war, und verstand nicht ganz, warum seine Frau auf dem Boden herumkroch. Er glaubte, sie suche sein Gebiss. Regula stieß ihn mit beiden Fäusten vor die Brust. Er fiepte wie die jungen Seehunde auf der Sandbank vor Borkum. Dann fiel er auf die Knie, und statt zu kämpfen, bettelte er nur: »Bitte, lassen Sie uns doch in den Wagen; ich bin jetzt siebzig Jahre alt, ich schaffe das nicht mehr! Sie sind jung und gesund. Ihr Körper wird mit so einer Sache besser fertig. Für Sie ist das vielleicht nur wie ein Schnupfen. Für meine Frau und mich ein Todesurteil.«
Regula sah sich nach Antje und Lukka um. Einem Kampf war sie gewachsen, einem weinenden alten Mann nicht. Sie brauchte jetzt Verstärkung. Seine Tränen und seine demütige Geste ließen ihre Wut zusammenfallen wie Hefekuchen. Und ohne die Wut war sie wehrlos.
Ganz anders Antje. Sie wurde erst durch seine zur Schau gestellte Hilflosigkeit richtig sauer. So hatte ihr Großvater sie und die ganze Familie immer erpresst. Alle mussten sich schlecht fühlen und sich um ihn kümmern. Er war bis zu seinem Tod ein Weltmeister der Manipulation gewesen.
Antje sah die Brille Eberhard Thieles, die ebenfalls auf dem Boden gelandet war, aber sie brachte sie ihm nicht. Auch wenn sie es niemals zugegeben hätte – sie trat absichtlich drauf und zerstörte sie fast lustvoll. Es war wie eine Rache an ihrem alten Großvater, der ihr den größten Teil der unbeschwerten Kindheit geraubt hatte.
Martha Thiele raffte sich plötzlich auf, als sei durch das knirschende Geräusch des Glases Energie in sie gefahren. Sie verpasste Lukka einen Kinnhaken, als hätte sie vorher in einem Kickbox-Studio trainiert, stürzte sich dann auf Antje und zerkratzte ihr mit ihren matt lackierten Fingernägeln das Gesicht.
31 Sie kamen nicht ganz bis in die Hans-Bödecker-Straße. Sie blieben mit ihrem Fiat in einer Blechlawine stecken. Die Straße war zwar mit Fahrzeugen verstopft, aber auf den Gehwegen waren keine Menschen zu sehen. An den Fenstern in der Hans-Bödecker-Straße waren die meisten Rollläden heruntergelassen. Aus der Vogelperspektive, von einem Hubschrauber etwa, musste es aussehen, als würden sich die Autos wie klebrige Insekten auf einer schleimigen Spur durch eine menschenleere Stadt wälzen …
Die Insassen des Fiat Panda hatten das Radio ausgeschaltet, um sich von den Katastrophenmeldungen nicht noch mehr deprimieren zu lassen, und stritten sich.
Ulf Galle war nervös. Am liebsten wäre er ausgestiegen. Er musste endlich zu seiner Dienststelle zurück, denn er hatte Angst, seine Praktikumsstelle aufs Spiel zu setzen. Er sah inzwischen in dieser Virusgrippe auch seine große Chance auf Festanstellung; schließlich würde es viel zu tun geben.
»Hören Sie endlich auf!«, fauchte Bettina Göschl.
Seitdem Ulf Galle wusste, dass er in den Augen der Sängerin nichts weiter war als ein Waschlappen, hatte er keine Hemmungen mehr, sich gehen zu lassen, während Carlo Rosin zu immer größerer Form auflief. Er übernahm die Handlungsführung.
»Wir können jetzt hier sowieso nicht weiter. Pass mal auf, Kollege, ich werde Bettina Göschl helfen, Frau Steiger zum Arzt zu bringen, und du kannst sehen, wie du mit der Kiste hier fertigwirst!«
Das passte Ulf Galle noch viel weniger. Er protestierte laut auf dem Beifahrersitz, doch schon öffnete Carlo die Tür und stieg aus und überließ den Fahrersitz demonstrativ Ulf Galle.
Während Bettina Göschl und Carlo Rosin Frau Steiger links und rechts stützten, streckte Leon Ulf Galle die Zunge heraus. Eins
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