Todesbrut
Erziehung. Aber er tat es trotzdem und freute sich, noch einen Herzschlag zu spüren, wenn auch unregelmäßig und schwach.
»Entweder Sie machen jetzt auf«, brüllte er, »oder ich trete die Tür ein!«
Leon griff nach seinem Säbel. »Ja! Ja! Ja!«
»Okay. Ich mache Ihnen auf. Sie können aber nicht in die Praxis. Bitte bleiben Sie im Flur. Dr. Husemann wird hinauskommen und sich die Patientin im Hausflur anschauen.«
»Meinetwegen auch im Keller«, zischte Bettina. Im selben Augenblick summte der Öffner und mit einem Klack sprang die Tür auf. Sofort schob Leon seinen Säbel durch den engen Türschlitz, damit die Tür nicht wieder geschlossen werden konnte. Er kam sich heldenhaft und wichtig dabei vor. Er wusste, dass er diesen Moment nie im Leben vergessen würde.
Bettina Göschl schließlich drückte die Eingangstür mit ihrer Schulter auf. Gemeinsam hoben sie Frau Steiger in den Flur. Es roch merkwürdig nach Spiritus und Desinfektionsmitteln.
Bettina hatte damit gerechnet, in einem leeren Hausflur zu stehen. Dem war aber nicht so. Hier wartete eine Schlange von gut zwei Dutzend Personen mit fiebrig glänzenden Augen und um die Ecke ging es weiter und dann die Treppe hinauf.
Die Praxis befand sich im ersten Stock. Der Fahrstuhl war gesperrt. Außen hing ein Schild: Defekt. Im Fahrstuhl waren Besen und Eimer aufgebaut wie Straßensperren am Vorabend einer gewalttätigen Demonstration.
Sie konnten Frau Steiger nicht länger halten. Vorsichtig legten sie sie auf den Boden.
Bettina Göschl überlegte, ob es nicht besser sei, Leon wegzuschicken. Sie bat ihn, nach Hause zu gehen. Hier seien so viele kranke Menschen, da könne er leicht angesteckt werden.
»Aber echte Piraten fürchten die Gefahr nicht«, sagte er. Dabei spürte sie genau, dass er mehr Angst hatte, jetzt allein zu Hause zu sein, als hier mit seinen neuen Freunden zu warten.
Bettina band sich das Piratenkopftuch, das eigentlich für die heutige Vorstellung sein sollte, um den Mund. Leon tat es ihr gleich. Carlo Rosin trennte mit einem einzigen kräftigen Schnitt seines Schweizermessers den rechten Ärmel von seinem Jackett ab und benutzte ihn als Mundschutz.
Plötzlich kam ein junges Mädchen die Treppe herunter. Sie hüpfte elfenhaft an den Wartenden vorbei, peinlich darauf bedacht, niemanden zu berühren. Sie trug einen weißen Kittel, eine blickdichte weiße Strumpfhose und weiße Clogs. Ihr Gesicht war durch ein Atemschutzgerät über Mund und Nase unkenntlich gemacht. Das Plastikteil war für sie viel zu groß, sodass der Rand ihr rechtes Auge fast zudeckte. Trotzdem bemühte sie sich um ein verbindliches Lächeln, was an ihren verspannten Halsmuskeln erkennbar war.
Aus einem Plastikbehälter, der Bettina an ihren Pflanzenbestäuber zu Hause erinnerte, sprühte die junge Frau Desinfektionsmittel in die Luft, auf die Wand und auf die Hände der Menschen. Sie schien ihren Auftritt zu genießen. Brav reckten alle ihr die Finger entgegen. Sie hielt Abstand, versprühte aber hoffnungsvoll ihr Sterilium, das die Viren abtöten sollte.
Dass sie immer wieder einen Strahl in die Luft verschoss, wunderte Bettina, aber sie verstand, die junge Frau versuchte, sogar die Luft zu reinigen. Vermutlich hatte sie, wie alle Menschen in den letzten Stunden, die Nachricht gehört, dass sich beim Niesen austretende Viren noch minutenlang in der Luft aufhalten und durch Wind oder Verwirbelungen weit getragen werden können, bevor sie einen neuen menschlichen Organismus finden.
Auch Bettina Göschl hielt die Finger hin und zerrieb die wenigen Tröpfchen auf der Hand. Die Blicke der beiden trafen sich. Die Augen der Arzthelferin waren voller Mitgefühl und Wärme. Bettina spürte, wie viel Überwindung es sie gekostet haben musste, hinauszugehen zu den Menschen und sich der Gefahr auszusetzen, selbst infiziert zu werden. Sie nickte ihr dankbar zu, auch wenn sie Frau Steiger nicht helfen konnte.
Nach knapp zehn Minuten, die sich wie mehrere Stunden anfühlten, erschien schließlich eine weitere Sprechstundenhilfe mit einem richtig sitzenden Atemschutzgerät. Es musste die sein, mit der sie über den Lautsprecher verhandelt hatten. Sie wirkte wesentlich professioneller als die Desinfektionsmittel versprühende Hupfdohle und maß bei allen Anwesenden das Fieber. Frau Steiger hatte eine Temperatur von 39,7.
»Sie muss dringend in ein Krankenhaus«, stellte die Schwester fest. »Wir können sie hier nicht behandeln.«
»Geben Sie ihr ein fiebersenkendes
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