Todesbrut
er bestehen konnte. Damals im Juweliergeschäft seiner Eltern hatte er sich so grauenhaft ausgeliefert und unterlegen gefühlt. Nie wieder wollte er in so eine Situation geraten. Er hatte den richtigen Augenblick abgepasst, um die Führung an sich zu reißen.
»Meinetwegen können wir auch nach Amsterdam, nach Rotterdam – es ist mir völlig egal. Hauptsache, nicht nach Emden«, zischte Frau Schwann, die sich durch eine Menschentraube zu ihrem Mann auf die Kommandobrücke zwängte.
»Wie viel Sprit haben wir denn? Wird der reichen?«
»Ist die Ostfriesland III überhaupt hochseetauglich? Das ist doch eine Fähre und kein Ozeandampfer!«
Rainer Kirsch lachte demonstrativ. »Das lasst mal meine Sorge sein, Jungs. Mit dem Kahn hier bringe ich uns überallhin. Borkum ist ja praktisch eine Hochseeinsel, dahin fahren nicht die kleinen Fähren, die Norderney oder Juist ansteuern. Hier sind wir nicht in einer ausgebaggerten Fahrrinne. Das hier ist bereits das offene Meer.«
Fokko Poppinga hatte es geschafft und die Oberlippe über das rote Klebeband geschoben. So konnte er besser atmen, aber auch endlich seine Wut loswerden. Eigentlich hatte er vor, den Meuterern zu sagen, was er von ihnen hielt, denn er war völlig überzeugt davon, dass die Situation hier schon sehr bald durch die Küstenwache beendet werden würde, und bei dem anschließenden gerichtlichen Nachspiel wollte er nicht als Feigling oder Versager dastehen, sondern als einer, der sich klar auf die Seite des Kapitäns geschlagen hatte.
»Blödsinn, wir sind hier im Dollart! Von wegen offenes Meer! Das ist die größte tideoffene Brackwasserbucht des deutsch-niederländischen Wattenmeeres.«
Rainer Kirsch drehte sich zu Poppinga um und sah ihn an. »Für jemanden, der gefesselt und geknebelt am Boden sitzt, haben Sie eine verdammt große Fresse, finden Sie nicht?«
Kirsch hob die Hand. Fokko Poppinga zuckte zusammen und schloss die Augen in Erwartung eines Boxhiebes. Aber Rainer Kirsch schlug nicht zu. Ihm reichte schon das Zusammenzucken. Er hatte demonstriert, wer hier die Macht hatte.
»An Ihrer Stelle würde ich kooperieren. Wie werden Sie sonst hinterher dastehen? Gegen den Willen der Mannschaft mussten die Passagiere ihr Leben selbst retten? Um nicht in einem Seuchengebiet umzukommen, mussten sie die Führung des Schiffes übernehmen und es selbst in einen sicheren Hafen navigieren? Ein gefundenes Fressen für die Presse, meinen Sie nicht?« Rainer Kirsch schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. »Mensch, merken Sie nicht, wie bescheuert das ist? Sie stehen auf der falschen Seite.«
Pittkowski grinste. »Von Stehen kann nicht die Rede sein. Der sitzt da, und zwar gefesselt.« Dann beugte er sich hinunter, um Fokko Poppinga erneut den Mund zu verkleben. Er ging dabei sehr vorsichtig zu Werke, denn er hatte keine Lust, einen Finger zu verlieren wie der Kellner.
»Also«, fragte Schwann, »wohin fahren wir jetzt? Wir haben noch nichts entschieden.«
»Vielleicht sollten wir erst Kontakt mit Schiermonnikoog aufnehmen, damit wir dort nicht auch ein blaues Wunder erleben wie auf Borkum. Wenn die uns nicht wollen, können wir ja immer noch nach Memmert«, schlug Pittkowski vor.
Frau Schwann meldete Bedenken an. »Meine Freundin hat sich mal an einem Ausflug beteiligt. Sie sind von Juist aus mit dem Boot rund um Memmert gefahren und von den Mücken nur so attackiert worden. Es war der reinste Vampirismus. Auf Memmert gibt es so viele Mücken und wir haben kein Autan mit oder so was. Auf den ostfriesischen Inseln ist man doch sonst vor Mücken sicher. Deswegen fahre ich ja so gerne dorthin. Ich bin allergisch gegen Mückenstiche.«
Pittkowski lachte. Jetzt sah er wieder Brad Pitt sehr ähnlich. Er hatte sich sogar angewöhnt, Brad Pitts Lachen nachzuahmen. Er machte es aber sehr überzogen und dadurch sah sein Gesicht unnatürlich verzerrt aus, fast wie eine künstliche Fratze.
»Oooooh, wir haben kein Mückenspray! Na, das wird aber schlimm werden. Kein Mückenspray, keine Slipeinlagen, kein Achseldeodorant – hoffentlich hält Ihre Frisur den Dauerstress durch. Vielleicht sollten wir einen Stylisten einfliegen lassen – Udo Walz vielleicht –, damit unsere Damen nur nicht ungeschminkt und unfrisiert an Land gehen müssen … Bald wird hier nämlich die Weltpresse erscheinen und erste Filmaufnahmen machen, da wollen wir doch alle gut aussehen und nicht von Mückenstichen entstellt!«
Der dicke Brad formulierte frech Dinge, die Helmut Schwann
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