Todesbrut
die ganze Familie ausgelöscht werden würde, für ein bisschen Schmuck und ein paar Uhren.
Sie hatten ihn in den Laden gezerrt und eine Waffe an seinen Kopf gedrückt. Er musste sich mit dem Gesicht nach unten auf den Boden legen. Damals hatte er sich bepinkelt, ohne es zu merken.
Die beiden Täter waren geschnappt und verurteilt worden. Inzwischen waren sie längst wieder auf freiem Fuß, aber er, sein Vater und seine Mutter trugen seitdem Schusswaffen. Und zumindest er war auch bereit, sie einzusetzen. Ihn würde man nicht entführen, wie den Sohn eines Kollegen, und dann die Familie erpressen. Er war bereit, sich zu verteidigen.
Er hatte die Beretta, wie jedes Jahr, sogar mit in den Urlaub genommen. Er machte Urlaub in Deutschland. Solange er keine Grenze überquerte, gab es auch keine Scherereien mit dem Zoll oder der Polizei.
Er musste vorsichtig sein hier an Bord. Es gab sicher noch mehr Matrosen. Er wusste nicht, wo sie waren, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass diese Fähre nur von drei Leuten begleitet wurde.
Die Kellner und das Servicepersonal waren auf Seiten der Meuterer. Aber Rainer Kirsch befürchtete Schwierigkeiten mit ein, zwei Seeleuten, die sich vielleicht irgendwo versteckt hielten. Er hatte viele Filme mit Bruce Willis gesehen und konnte bei allen Teilen von »Stirb langsam« die Dialoge auswendig mitsprechen.
Er behauptete, die Nordseeküste wie seine Westentasche zu kennen, und schlug vor, nach Rottumerplaat oder besser noch nach Schiermonnikoog zu fahren. Die Holländer seien nicht so verbohrte Bürokratenärsche, dort würde man ihnen helfen. Wahrscheinlich freue man sich auf den holländischen Inseln, wenn die Touristen dort ankämen, und man könne in Ruhe abwarten, wie sich die Lage in Emden entwickelte. In einem waren sich alle Passagiere einig: Niemand wollte nach Emden. Aber Pittkowski strich sich immer wieder nervös übers Gesicht und wackelte mit dem Fuß wie bei einer viel zu schnellen Musik.
»Ich weiß nicht, ich weiß nicht. Holland. Wir haben alle schon Borkum gebucht. Da entstehen doch neue Kosten. Wer zahlt uns das?«
Helmut Schwann sah seine Vormachtstellung durch Rainer Kirsch bröckeln. Auch ihm passte es gar nicht, nach Holland zu gehen. Im Krisenfall wollte er sich lieber in seinem Heimatland befinden, wo er die Gesetze kannte und mit ihnen umzugehen wusste.
»Das mit Holland ist eine Schnapsidee. Die werden uns doch bloß ausnehmen.«
Fokko Poppinga machte Kaubewegungen, um sein Klebeband loszuwerden. Er hatte Angst, daran zu ersticken, denn seine Nasenschleimhäute waren so trocken und angeschwollen, dass er kaum Luft durch die Nase bekam.
»Was wollt ihr denn?«, brauste Rainer Kirsch auf. »In Borkum haben sie uns schließlich nicht an Land gelassen. Oder sollen wir es erzwingen? Wir könnten eine Gruppe zusammenstellen und mit ein paar entschlossenen Männern …«
Er musste gar nicht weiterreden. Schwann hatte für heute genug von solchen Kämpfen. »Ich denke, wir sollten nach Memmert fahren. Das ist nicht weit. Wir müssen nur zur anderen Seite von Borkum und dann …«
»Ich weiß, wo Memmert liegt«, erwiderte Kirsch und winkte ab. Er kratzte sich am Bauch, sodass seine rechte Hand sehr nah über der Beretta schwebte. Die Geste hatte etwas Unanständiges an sich. Er wandte sich an die anderen, um es ihnen zu erklären: »Memmert ist eine Vogelinsel. Nicht bewohnt. Eine reine Brutstätte für Möwen und andere Seevögel. Es gibt auf Memmert nur einen einzigen Menschen: den Vogelwart. Falls der gerade da ist. Die haben nicht mal einen Anlegesteg.«
»Nun, dann kann uns wenigstens keiner an der Landung hindern«, warf Schwann ein.
»Dafür wird uns aber auch niemand versorgen«, konterte Rainer Kirsch. »Wir können da nicht draußen auf der Terrasse sitzen, uns einen Milchkaffee bestellen und in Ruhe die Nachrichten hören. Es gibt auf Memmert keinen Zimmerservice. Da können wir uns höchstens ein paar Wildvogeleier in die Pfanne hauen.«
»Man wird vom Festland kommen und uns Hilfe bringen. Das Rote Kreuz oder …«
»Die haben im Moment vermutlich andere Sorgen«, gab Pittkowski zu bedenken.
Der Kapitän wollte sich einmischen, doch sein mit Isolierband zugeklebter Mund gab ihm keine Chance. Er hoppelte auf dem Boden auf und ab und versuchte, wenigstens so auf sich aufmerksam zu machen.
Noch immer ging Rainer Kirsch davon aus, dass die Pistole ihm viel Autorität verlieh. Dies hier war das erste richtige Abenteuer seines Lebens, das
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