Todesbrut
Wirkung der sich formierenden Viren in seinem Blutkreislauf. Er schloss nicht einmal aus, dass es vom Tamiflu selbst kam.
Er hatte als junger Arzt schon viele Menschen sterben sehen, aber seit dem Tod von Rebecca Grünpohl bekam er zum ersten Mal ein Gefühl für die eigene Endlichkeit. Bei einem ähnlichen Krankheitsverlauf wie ihrem blieben ihm vielleicht noch achtundvierzig Stunden, wobei er damit rechnen musste, die letzten zwanzig nicht mehr ohne fremde Hilfe auskommen zu können …
Maiwald sah sich um. Dieser merkwürdig sterile Raum mit den kahlen Wänden und der viel zu laut tickenden Uhr war wenig geeignet für das, was er jetzt vorhatte, und in die Situation passte es schon mal gar nicht. Doch er würde vielleicht nicht mehr viel Zeit haben und es gab noch ein paar Dinge, die gesagt werden mussten.
Der Gedanke machte ihm die Augen feucht, aber er schämte sich nicht dafür. Linda machte keine Anstalten, den Raum zu verlassen. Still stand sie neben ihm.
»Ich habe lange gebraucht, Linda, sehr lange. Es tut mir leid. Wir haben so viel Zeit vergeudet. Aber irgendwann muss ich es dir sagen. Warum nicht jetzt?«
Linda wusste, was jetzt kommen sollte. Auch sie hatte schon lange darauf gewartet. Auf keinen Fall hatte sie den Anfang machen wollen. Sie war eine Verwaltungsangestellte. Er der Arzt. Sie wollte, dass es von ihm kam. All diese Geschichten zwischen Ärzten und Krankenschwestern, das war ihr so trivial vorgekommen. Irgendwann hatte sie sich sogar mies dabei gefühlt, eingereiht in die Galerie der schmachtenden Mäuschen, die den jungen Doktor anbeteten. Aber er war keiner dieser Womanizer. Sie hatte nie von einer Affäre gehört. Er lebte allein mit seiner Mutter, was sie kritisch gegen ihn stimmte. Sie hatte die Erfahrung gemacht, dass Männer, die zu lange bei ihren Müttern lebten, für eine Beziehung untauglich wurden. Sie wollte keinen Sohn, sie wollte einen Mann. Aber er wirkte auch nicht wie einer von den ewig klein gebliebenen Jungs, die sich von Mami versorgen ließen, sondern eher wie einer, der sich rührend um seiner Mutter kümmerte.
»Klare Diagnose«, sagte sie, um die Situation ein bisschen zu entkrampfen. Dann begann sie zu lachen. »Das ist garantiert die erste Liebeserklärung, die mir jemand mit Mundschutz und fiebrigen Augen macht. Es wird doch hoffentlich eine Liebeserklärung werden, oder?«
Er nickte und hätte sie jetzt am liebsten in den Arm genommen, um sie zu küssen, doch die Situation machte es unmöglich. Sie drückte sich an ihn und eine Weile blieben sie so stehen. Sie wusste nicht, ob sie ihn stützte oder ob er sich so fest an sie klammerte, weil eine Liebeswelle seinen Körper durchflutete.
»Es kommt spät, Linda«, flüsterte er, »sehr spät. Aber es kommt von Herzen. Wenn wir das hier gemeinsam überstehen, dann …«
Sie drückte sich noch fester an ihn. »Dann werden wir Urlaub machen«, vervollständigte sie seinen Satz. »Irgendwo in einem Superhotel mit einem riesigen Bett, das wir eine Woche lang nicht verlassen, um alles nachzuholen, was wir versäumt haben.«
Am liebsten hätte er jetzt sofort hier zum ersten Mal Liebe mit ihr gemacht, aber er war zu schwach dazu und vielleicht auch zu vernünftig.
35 Ole Ost und zwei Mitglieder seiner Mannschaft, Fokko Poppinga und Tjark Tjarksen, saßen gefesselt auf dem Boden des Fahrstands, während ein Freizeitsegler das Kommando über die Ostfriesland III übernahm.
Rainer Kirsch brüstete sich damit, den Sporthochseeschifferschein zu besitzen. Er hatte an berühmten Regatten teilgenommen, wie dem Baltic Sprint Cup, und so eine Fähre war für ihn einfach nur ein schwerfälliges Schiff, das im Grunde jeder Anfänger durch die Nordsee manövrieren konnte.
Die Beretta, eine Pistole, die er normalerweise versteckt im Schulterholster trug, wenn er Diamanten für seinen Vater transportierte oder wenn er edle Uhren von Stammkunden abholte, steckte jetzt, für alle deutlich sichtbar, vorn in seinem Hosenbund, sodass der Griff seinen Bauchnabel berührte.
Er hatte sich an die Waffe gewöhnt. Zunächst trug er sie aus Sicherheitsgründen, denn in ihrem Juweliergeschäft war einiges zu holen. Vor zehn Jahren, als er noch in der Pubertät war, hatten zwei Maskierte den Laden seines Vaters in Köln-Rodenkirchen überfallen. Ein ehemaliger Angestellter und sein Komplize.
Rainer Kirsch war damals mitten in den Überfall hineingeplatzt. Er hatte die Todesangst im Gesicht seines Vaters gesehen und geglaubt, dass
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