Todesbrut
seiner Frau schon immer hatte sagen wollen. Vielleicht nicht so gemein und zugespitzt, aber ihre Ichbezogenheit und ihr Gesundheitswahn gingen ihm schon lange auf die Nerven. Trotzdem nahm er sie jetzt in Schutz: »Niemand redet so mit meiner Frau!«, rief er empört.
»Doch«, erwiderte Pittkowski. »Ich. Ich rede nämlich immer, wie mir der Schnabel gewachsen ist.«
»Seien Sie jetzt ruhig«, sagte Kirsch energisch. »Ich muss nachdenken.«
»Sie können nicht alleine bestimmen, wohin wir fahren«, gab Schwann zu bedenken.
»Was haben Sie vor? Eine Abstimmung?«
»Warum nicht? Für die Entscheidungen, die wir jetzt fällen, muss hinterher jemand geradestehen. Ich fände es richtig, so viele Leute wie möglich einzubinden.«
»Was wollen Sie?«, fauchte Rainer Kirsch. »Freie, geheime Wahlen, mit denen da« – er zeigt auf Ole Ost, Fokko Poppinga und Tjark Tjarksen –, »mit denen da als Gegenkandidaten?«
»Ich habe lange in der Schweiz gearbeitet«, sagte Schwann sachlich. »Dort gibt es etwas, was wir praktisch gar nicht kennen. Volksabstimmungen zu den Themen, die alle betreffen. Dies hier betrifft uns alle. Es sollten auch alle mit entscheiden.«
»Nach welchen Prinzipien soll das stattfinden? Einfache Mehrheit? Zweidrittelmehrheit?«
»Was die meisten wollen, wird gemacht.«
Pittkowski fand diese Idee blödsinnig. Ihm dauerte das alles viel zu lange und es ging ihm zu weit. Er brauchte Leute, die sagten, wo es langging. Auch wenn er sich dann darüber aufregte, war es doch erleichternd für ihn, jemanden zu haben, der die Verantwortung trug.
»Volksabstimmung«, spottete er. »Sollen wir dann jetzt Wahlkampfplakate drucken lassen oder was? Ich will endlich von diesem Scheißschiff runter! Notfalls grille ich mir auf Memmert einen Seevogel, die sollen ja ganz schmackhaft sein.« Dann wandte er sich bissig an Frau Schwann: »Außerdem vertreibt das Feuer bestimmt die Mücken!«
36 Ubbo Jansen hatte mit seinen sechzigtausend Hühnern eigentlich etwas anderes zu tun, als sich um eine einzelne Küstenseeschwalbe zu kümmern. Aber als vorausschauender Vater wollte er es sich auf keinen Fall mit dem jungen Mädchen verderben, das möglicherweise seine Schwiegertochter werden würde. Die Familie war schließlich schon zerrüttet genug.
Er wusste von seiner Tochter, wie gefühlsbetont Frauen in diesem Alter waren, wenn sie einen Beschützerinstinkt entwickelten. Diese Josy beschützte die Küstenseeschwalbe wie ihr eigenes Kind und sein Sohn war offensichtlich emotional von dieser Frau bereits sehr abhängig. Er wollte in ihren Augen gut dastehen. Daher traf Ubbo Jansen eine Entscheidung, die ihm schon wenige Minuten später sehr leidtun sollte.
Auf den Monitoren seiner Außenüberwachungsanlage hätte er es bereits sehen können. Doch er hatte gerade kein Auge dafür. Er erwartete keinen Angriff von außen. Er rechnete mit Gefahren für seine Hühnerfarm von innen.
Doch er sollte sich irren. Sie ging keineswegs von dem angeschossenen Seevogel aus, sondern von einer Gruppe junger Menschen, die sich vorgenommen hatten, durchzugreifen, da die Behörden offensichtlich nicht mehr in der Lage dazu waren. Überall wurde gekeult, was das Zeug hielt, nur hier nicht … Das wollten sie ändern.
Unter ihnen waren Glatzen, die versuchten, ihren Hauptschulabschluss nachzumachen, aber auch Gymnasiasten kurz vor ihrem Einserabitur. Hip-Hop-Fans, Gangstarapper und Sammler von illegalen Fascho-Liedern bildeten eine unselige Allianz.
Ubbo Jansen nahm den vierradangetriebenen Jeep, an dem es eine besondere Vorrichtung gab, mit der Tim in das Heck des Wagens rollen konnte. Die Kamera wackelte am Stativ.
Josy saß neben Ubbo Jansen. Auf ihren Knien hielt sie die Küstenseeschwalbe, weil Ubbo darauf bestanden hatte, sie mitzunehmen, geschützt in einer Plastiktüte, nur der Kopf des Vogels sah heraus. Ubbo hatte vor, danach den Innenraum des Wagens zu desinfizieren.
Er wollte sie zur Vogelstation fahren, wo Seevögel in Not behandelt wurden, zum Beispiel Tiere, die mit Tankeröl verschmiert waren und ohne Hilfe jämmerlich verrecken würden. Ubbo Jansen konnte nicht ahnen, dass das Gebäude längst brannte und eine johlende Menge davor die Flammen feierte.
»Jetzt wird endlich reiner Tisch gemacht. Menschen und Vögel passen eben nicht zusammen«, postete ein Internetuser auf Tim Jansens Blog und stellte seinen Handyfilm von der brennenden Vogelschutzstation ein. Aber Tim beobachtete seine Homepage im Moment
Weitere Kostenlose Bücher