Todesdämmerung
irgendwie in den Armen und küßten sich sanft und zärtlich. Seine Hände strichen über sie, liebkosten sie leicht, und die Berührung erregte ihn. Wenn Joey nicht im selben Zimmer gewesen wäre, dann hätte Charlie sie jetzt geliebt, und das wäre das beste gewesen, was sie beide je erlebt hatten. Aber so konnten sie sich nur in der Küche aneinanderklammern, bis die Enttäuschung am Ende überwog. Dann küßte sie ihn dreimal, einmal tief und zweimal ganz leicht auf die Mundwinkel, und ging zu Bett.
Als alle Lichter ausgeschaltet waren, saß er am Tisch vor dem Fenster und beobachtete den Parkplatz.
Er hatte nicht die Absicht, Christine um halb fünf zu wekken. Eine halbe Stunde, nachdem sie zu Joey ins Bett gekrochen war, und Charlie sicher war, daß sie eingeschlafen war, ging er lautlos zum anderen Bett.
Während er darauf wartete, daß der Schlaf ihn übermannte, dachte er wieder an das, was er Christine über seine Kindheit erzählt hatte, und dann betete er zum erstenmal seit mehr als fünfundzwanzig Jahren. Wie früher betete er wieder um die Sicherheit und die Rettung eines kleinen Jungen, nur daß es diesmal nicht der Junge in Indianapolis war, der er einmal gewesen war, sondern ein Junge in Santa Barbara, der durch Zufall der Brennpunkt des Hasses einer verrückten alten Frau geworden war.
Laß nicht zu, daß Grace Spivey das tut, Gott. Laß sie nicht in Deinem Namen ein unschuldiges Kind töten. Es kann keine größere Blasphemie als das geben. Wenn es Dich wirklich gibt, wenn Du wirklich um uns Menschen besorgt bist, dann ist dies ganz sicherlich der Zeitpunkt, eines Deiner Wunder zu tun. Schicke Raben, daß sie der alten Frau die Augen herauspicken. Schicke eine mächtige Flut, um sie wegzuspülen. Irgend etwas. Zumindest einen Herzanfall, einen kleinen Schlag, irgend etwas, um sie zu stoppen.
Während er sich selbst beten hörte, wurde ihm klar, wes halb er nach all den Jahren das Schweigen zwischen Gott und sich gebrochen hatte. Es war, weil er sich zum erstenmal seit langer Zeit auf der Flucht vor der alten Frau und ih ren Fanatikern wie ein Kind fühlte, ein Kind, das Hilfe brauchte und der Welt alleine nicht mehr gewachsen war.
42
Kyle Barlowe wurde in seinem Traum ermordet; ein gesichtsloser Feind stach immer wieder auf ihn ein, und er wußte, daß er starb, und doch tat es nicht weh, und er hatte keine Angst, er wehrte sich nicht, ließ es einfach mit sich geschehen, und in dieser Passivität entdeckte er das tiefste Ge fühl des Friedens, das er je gekannt hatte. Obwohl er getötet wurde, war es ein angenehmer Traum, kein Alptraum, und ein Teil von ihm wußte irgendwie, daß nicht alles in ihm getötet wurde, nur das Böse in ihm, nur der alte Kyle, der die Welt gehaßt hatte, und wenn jener Teil von ihm schließlich beseitigt sein würde, dann würde er wie jeder andere Mensch sein, und das war das einzige, was er sich je im Le ben gewünscht hatte. Wie jeder andere zu sein...
Das Telefon weckte ihn. Er tastete in der Dunkelheit nach dem Apparat.
»Hallo?«
»Kyle?« fragte Mutter Grace.
»Ja«, sagte er, und der Schlaf war plötzlich verdrängt.
»Es ist viel geschehen«, sagte sie.
Er sah auf das Leuchtzifferblatt seiner Uhr. Es war 4 Uhr 06 am Morgen.
»Was?« sagte er. »Was ist geschehen?«
»Wir haben die Ungläubigen mit Feuer ausgemerzt«, sagte sie geheimnisvoll.
»Ich wollte doch dabeisein, wenn etwas geschieht.«
»Wir haben sie mit Feuer ausgetilgt und Salz auf die Erde gestreut, damit sie nicht wiederkehren können«, sagte sie, und ihre Stimme hob sich.
»Du hast es mir versprochen. Ich wollte dabeisein.«
»Ich habe dich nicht gebraucht — bis jetzt nicht«, sagte Mutter Grace.
Er schob die Decke von sich, setzte sich auf den Bettrand, grinste in die Dunkelheit. »Was soll ich tun?«
»Sie haben den Jungen weggeschafft. Sie versuchen ihn vor uns zu verstecken, bis seine Kräfte wachsen, bis er unberührbar ist.«
»Wo haben sie ihn hingeschafft?« fragte Kyle.
»Das weiß ich nicht genau. Mindestens bis Ventura, soviel weiß ich. Ich warte auf weitere Nachrichten oder auf eine Vision, die die Lage klären wird. Unterdessen gehen wir nach Norden.«
»Wer?«
»Du, ich, Edna und sechs oder acht von den anderen.«
»Hinter dem Jungen her?«
»Ja. Du mußt ein paar Kleider einpacken und zur Kirche kommen. In einer Stunde geht es los.«
»Ich komme sofort«, sagte er.
»Gott segne dich«, sagte sie und legte auf.
Barlowe hatte Angst. Er erinnerte sich
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