Todesdämmerung
auch sein mochten.
Vielleicht schmeichelte er sich nur, aber er argwöhnte je denfalls, daß sein romantisches Interesse an ihr nicht einseitig war, daß auch sie sich für ihn interessierte. Er hoffte, daß das der Fall war. Mehr als alles andere wünschte er sich, daß sie ihn wollte.
Als es Mitternacht war, ertappte er sich dabei, wie er ihr Dinge erzählte, die er noch nie jemandem erzählt hatte, Dinge, die er schon lange hatte vergessen wollen. Es waren Ereignisse, von denen er dachte, daß sie die Kraft verloren hatten, ihm wehzutun, aber als er jetzt von ihnen sprach, wurde ihm bewußt, daß der Schmerz die ganze vergangene Zeit dagewesen war.
Er erzählte ihr, wie arm er in Indianapolis gewesen war, wie damals nicht immer genug zu essen dagewesen war, weil die Sozialhilfezahlungen zuerst für Wein, Bier und Whiskey verwendet wurden. Er erzählte ihr davon, wie er nicht hatte schlafen können, aus Angst, die Ratten, die ihre armselige Hütte heimsuchten, würden auf sein Bett sprin gen und ihn beißen.
Er erzählte ihr von seinem trunksüchtigen, gewalttätigen Vater, der seine Mutter so regelmäßig verprügelt hatte, als wäre das die Pflicht eines Ehemannes. Manchmal hatte der alte Mann auch seinen Sohn geprügelt, gewöhnlich, wenn er zu betrunken war, um viel Schaden anzurichten. Charlies Mutter war zu schwach und dumm gewesen und selbst Alkoholikerin; sie hatte von vornherein kein Kind haben wollen und hatte sich nie eingemischt, wenn ihr Mann Charlie schlug.
»Leben Ihre Mutter und Ihr Vater noch?« fragte Christine.
»Gott sei Dank, nein! Jetzt, wo ich es zu etwas gebracht habe, würden die vor meiner Tür ihre Zelte aufschlagen und so tun, als wären sie die besten Eltern gewesen, die ein Kind je hatte. Aber in diesem Haus hat es nie Liebe gegeben, nie Zuneigung.«
»Dann sind Sie ein gutes Stück die Leiter hinaufgestiegen«, sagte Christine.
»Mhm. Besonders wenn man bedenkt, daß ich nicht damit gerechnet habe, lange zu leben.«
Sie blickte auf den Parkplatz und das Schwimmbad hinaus. Er wandte ebenfalls den Blick zum Fenster. Die Welt war so still und reglos, daß sie ebensogut die einzigen Menschen hätten sein können, die es auf ihr gab.
»Ich dachte immer, mein Vater würde mich über kurz oder lang töten«, sagte er. »Das Komische ist, daß ich selbst damals schon Privatdetektiv werden wollte, weil ich sie im Fernsehen sah und wußte, daß sie nie vor etwas Angst hatten. Ich hatte immer vor allem Angst und wünschte mir mehr als alles andere, keine Angst zu haben.«
»Und jetzt sind Sie natürlich furchtlos«, sagte sie mit leiser Ironie.
Er lächelte. »Wie einfach einem das doch vorkommt, wenn man ein kleines Kind ist.«
Ein Wagen bog in den Parkplatz, und sie starrten ihn beide an, bis die Türen aufgingen, und ein junges Paar mit zwei kleinen Kindern ausstieg.
Charlie goß ihnen Kaffee nach und sagte: »Ich pflegte im Bett zu liegen, den Ratten zuzuhören und zu beten, meine beiden Eltern möchten sterben, ehe sie es schaffen, mich umzubringen. Und dann wurde ich wirklich böse auf Gott, weil Er mein Gebet nicht erhörte. Ich konnte nicht begreifen, weshalb Er es zuließ, daß die zwei einen kleinen Jungen wie mich so quälten. Ich konnte mich selbst nicht verteidigen. Warum schützte Gott mich also nicht? Und als ich dann ein wenig älter wurde, entschied ich, daß Gott meine Gebete nicht erhören konnte, weil Gott gut war und nie jemanden töten würde, nicht einmal Abschaum wie meine Eltern.
Also fing ich an zu beten, um aus diesem Haus befreit zu werden. >Lieber Gott, hier spricht Charlie. Ich will nichts anderes, als eines Tages hier rauskommen und in einem anständigen Haus leben und Geld haben und nicht die ganze Zeit Angst haben. <«
Plötzlich erinnerte er sich an eine makabere, komische Episode, an die er seit Jahren nicht mehr gedacht hatte, und er mußte in der Erinnerung darüber lachen.
»Wie können Sie darüber lachen?« sagte sie. »Obwohl ich weiß, daß am Ende ja alles für ihn recht gutgegangen ist, tut mir dieser kleine Junge in Indianapolis schrecklich leid. So als wäre er immer noch dort.«
»Nein, nein. Mir ist gerade etwas anderes eingefallen. Nach einiger Zeit, nachdem ich vielleicht ein Jahr lang zu Gott gebetet hatte, wurde ich es schließlich leid, daß es so lange dauerte, bis ein Gebet erhört wurde, und ich schlug mich eine Weile auf die andere Seite.«
»Die andere Seite?«
Er starrte zum Fenster hinaus, wo immer noch der Regen in
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