Todesdämmerung
das vom Regen niedergepeitscht wurde und sich dann wieder aufrichtete, als der Sturm seine Richtung änderte. Obwohl es Mittag war, hatten die meisten Fahrzeuge, die ihnen entgegenkamen, die Scheinwerfer eingeschaltet.
»Die Polizei weiß, was Grace Spivey lehrt — vom Herannahen des Zwielichts, vom Weltuntergang und dem Antichrist?« fragte Christine.
»Ja, das ist ihnen alles bekannt«, sagte Charlie.
»Sie wissen auch, daß sie meint, der Antichrist wäre bereits unter uns?«
»Ja.«
»Und sie wissen, daß sie die letzten paar Jahre damit verbracht hat, ihn zu suchen?«
»Ja.«
»Und daß sie vorhat, ihn zu töten, sobald sie ihn findet?«
»Das hat sie in keiner ihrer Reden gesagt und auch nicht in der religiösen Literatur geschrieben, die sie veröffentlicht hat.«
»Aber das ist doch ihre Absicht, und wir wissen es.«
»Was wir wissen und was wir beweisen können, sind zwei Paar Stiefel.«
»Die Polizei sollte erkennen, daß das der Grund ist, weshalb sie sich auf Joey fixiert hat und...«
»Als die Polizei sie gestern nacht verhörte, hat sie geleugnet, Sie und Joey zu kennen — auch die Szene am South Coast Plaza. Sie sagt, sie könne nicht begreifen, was Sie gegen sie haben, warum Sie sie beschuldigen. Sie sagte, sie habe den Antichrist noch nicht gefunden und glaube auch gar nicht, daß er sich in der Nähe befände. Sie haben sie gefragt, was sie tun würde, wenn sie ihn je fände, und sie sagte, sie würde Gebete gegen ihn richten. Sie fragten sie, ob sie versuchen würde, ihn zu töten, und sie gab sich von der bloßen Vorstellung entsetzt. Sie sagte, sie sei eine Dienerin Gottes und keine Verbrecherin. Sie sagte, Gebete würden genügen. Sie sagte, sie würde den Teufel in Gebeten festketten, ihn mit Gebeten fesseln, ihn mit nichts anderem als Gebeten zur Hölle zurückjagen.«
»Und die haben ihr natürlich geglaubt.«
»Nein. Ich habe heute morgen mit einem Detektiv gespro chen und das Protokoll des Verhörs gelesen. Die Polizei hält sie für geistesgestört, wahrscheinlich gefährlich, und ist der Meinung, daß man sie als Hauptverdächtige für die Anschläge auf Ihr Leben betrachten muß.«
Das überraschte sie.
»Sehen Sie?« sagte er. »Sie müssen positiver sein. Es geschieht etwas. Nicht so schnell, wie Sie das gern hätten, weil die Polizei gewisse Vorschriften befolgen und verfassungsmäßige Rechte beachten muß.«
»Manchmal habe ich den Eindruck, daß die einzigen Leute mit verfassungsmäßigen Rechten die Verbrecher unter uns sind.«
»Ich weiß. Aber wir müssen, so gut es geht, innerhalb die ses Systems arbeiten.«
Sie kamen am Orange County Flughafen vorbei und erreichten den San Diego Freeway, fuhren weiter in nördliche Richtung, auf Los Angeles zu.
Christine sah wieder nach hinten, zu Joey. Er starrte jetzt nicht mehr zum Fenster hinaus und hatte aufgehört, den Hund zu streicheln. Er war im Sitzen zusammengesackt und hatte die Augen geschlossen. Sein Mund stand offen und er atmete tief und regelmäßig.
Sie wandte sich wieder zu Charlie um und sagte: »Was mich beunruhigt, ist, daß wir langsam und behutsam innerhalb des Systems arbeiten müssen und daß unterdessen die ses Miststück Grace Spivey keinerlei Regeln hat, die sie bin den. Sie kann sich schnell bewegen und brutal sein. Während wir vorsichtig und auf ihre Rechte bedacht vorgehen, wird sie uns alle töten.«
»Es könnte sein, daß sie sich vorher selbst vernichtet«, sagte er.
»Was meinen Sie damit?«
»Ich bin heute morgen zu Ihrer Kirche gefahren und habe sie kennengelernt. Sie ist völlig verrückt, Christine. Absolut irrational. Die Frau hält das nicht mehr lange durch.«
Er erzählte ihr von seinem Zusammentreffen mit der alten Frau und von den blutigen Stigmata an ihren Händen und Füßen.
Wenn es seine Absicht gewesen war, sie zu beruhigen, indem er ein Bild von Grace Spivey als einer zusammenhanglös plappernden Irren am Rande des Zusammenbruchs malte, so mißlang ihm das gründlich. Die Intensität des Wahnsinns der alten Frau ließ sie nur noch bedrohlicher, noch unberechenbarer, noch unerbittlicher als je zuvor erscheinen.
»Haben Sie das der Polizei gemeldet?« fragte Christine. »Haben Sie gesagt, daß sie Joey vor ihren Augen bedroht hat?«
»Nein. Dann stünde nur mein Wort gegen das ihre.«
Er belichtete ihr von seinem Gespräch mit Denton Boothe, seinem Freund, dem Psychologen. »Boo sagt, eine Irre von dieser Art verfügt über erstaunliche Kraft. Er sagt, wir
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