Todeseis
mit zügigen Schritten.
Das stumme Verhalten des Kapitäns, das sie eben beobachtet hatte, dachte sie, sprach dafür, dass sich der Kapitän den ausdrücklichen oder stillschweigenden Weisungen seines Reeders unterwarf. Der eine schob die Verantwortung auf den nächsten. Die letzte Verantwortung trug jedoch der Kapitän. Sie nahm sich vor, Kapitän Smith daran zu erinnern.
»Ah, Mrs. Appleton«, sagte Mrs. Widener, »Sie werden heute Abend wie versprochen mein Gast sein, nicht wahr?«
Offenbar war bis zu Mrs. Widener nicht vorgedrungen, dass sie als Ehebrecherin galt, denn sonst hätte sie sie wohl nicht an die Einladung erinnert. Aber vielleicht, dachte Gladys, herrschten auf einem Schiff andere Regeln, und es verhielt sich genau andersherum. Manche Leute liebten die Nähe des Skandals.
»Bleibt es dabei, dass Kapitän Smith auch erscheinen wird?«
»Gewiss«, antwortete Mrs. Widener. »Er hat mir sein Kommen fest zugesagt.«
»Gut, dann können Sie mit mir rechnen.«
Beim Weitergehen begegnete sie dem zweiten Offizier Lightoller.
»Stimmt es, dass wir uns in der Nähe von Eisbergen befinden?«, fragte sie ihn.
»Mir ist von Eiswarnungen nichts bekannt«, gab dieser zurück.
Eine merkwürdige Antwort, dachte Gladys; denn von Eiswarnungen hatte sie gar nicht gesprochen.
»Es erstaunt mich, dass Sie nichts von Warnungen wissen. Selbst Mr. Ismay kennt sie.«
»Dann wird es wohl stimmen. Der Mann muss es wissen.«
»Wie meinen Sie das?«
»Kein Kommentar.«
»Eigentlich sollten Sie es wissen, nicht unbedingt dieser Herr, oder gehört Mr. Ismay etwa zur Mannschaft?«
Lightoller biss sich auf die Lippen und verkniff sich eine Antwort. Gladys war überzeugt, dass Lightoller die Eiswarnungen kannte, aber den Befehl bekommen hatte, nicht darüber zu sprechen.
»Wenn Sie mir nicht glauben, können Sie den Kapitän danach fragen«, fügte sie dennoch hinzu, »von dem hat Mr. Ismay nämlich die Eiswarnung erhalten. Ich war dabei, als der Kapitän ihm ein Telegramm übergab.«
»Ich werde mich erkundigen«, sagte Lightoller und wandte sich zum Weitergehen.
»Einen Moment noch«, sagte Gladys, um ihrem Anliegen Nachdruck zu verleihen. »Sie werden also die Anweisung geben, dass die Geschwindigkeit herabgesetzt wird?«
»Der Kapitän setzt die Geschwindigkeit des Schiffes fest. Die Senioroffiziere sind nicht berechtigt, die Geschwindigkeit nach Belieben herunter- oder heraufzusetzen, aber ich werde mich um das Problem kümmern.«
Gladys kam es vor, als hätten sich die Vibrationen des Schiffes verstärkt, und sie hatte das Gefühl, dass das Schiff eine höhere Geschwindigkeit hatte als zu jeder anderen Zeit, seitdem sie Queenstown verlassen hatten.
Sie hatte Glück und fand Roger in seiner Kabine, wo er mit der Durchsicht von Zeichnungen beschäftigt war, die den Grundriss des Schiffes abbildeten.
»Wie ich von einem Heizer erfuhr, ist es gestern Abend gelungen, das Feuer im Kohlenbunker zu löschen«, berichtete er ihr.
»Wenigstens eine gute Nachricht«, erwiderte Gladys.
»Was sind die schlechten?«
»Es liegen aktuelle Eiswarnungen vor.«
»Das ist mir auch schon bekannt geworden«, sagte Roger. »Ich habe mit dem Funker gesprochen.«
»Die Geschwindigkeit des Schiffes ist aber nicht reduziert worden, sondern die Titanic fährt schneller.«
»Noch sind wir nicht wirklich in einem Eisfeld«, sagte Roger. »Die bloße Nähe zum Eis ist nach gängiger Praxis auf diesen Schiffen kein Anlass, die Geschwindigkeit zu reduzieren. Von dieser Praxis wird Smith nicht abweichen. Wir erreichen das Eisfeld voraussichtlich gegen 23 Uhr. Sollte zu dieser Zeit die Geschwindigkeit nicht deutlich zurückgenommen worden sein, werde ich beim Kapitän Protest einlegen!«
»Es ist ein Skandal, wie dieser Kapitän sich verhält«, entgegnete Gladys. »Er darf nicht tun, was der Reeder verlangt. Man muss ihm ins Gewissen reden. Sonst geht das Schiff noch unter. Denk nur an das prophetische Buch dieses Schriftstellers. Ich mag es nicht mehr auf die leichte Schulter nehmen.«
»Keine Angst«, sagte Roger, »so schnell kann die Titanic nicht untergehen.«
»Aber wenn das Schiff durch ein Eisfeld fährt, ist die Gefahr einer Kollision doch ziemlich ernst?«
»Das ist durchaus richtig – aber auch wenn es zu einer Kollision kommt, bedeutet dies kaum, dass das Schiff untergeht. Das Schiff verfügt über Schotten. Wenn durch ein Loch Wasser einfließt, verhindern die geschlossenen Schotten ein Überlaufen des Wassers in die
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