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Todeseis

Todeseis

Titel: Todeseis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernward Schneider
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New York ankommen möchten. Ich fürchte allerdings, die meisten Passagiere werden zufrieden sein, einen Tag früher einzutreffen.«
    Am Tisch entstand vereinzelter Widerspruch.
    »Ich denke, dass New York wegen der Eisfelder, die auf dem Weg liegen, vor Mittwoch nicht erreicht werden kann«, sagte Gladys mit Nachdruck.
    Der Kapitän blickte in die Ferne.
    »Nun, wir werden sehen«, sagte er einsilbig. »Im Moment besteht kein Anlass, die Geschwindigkeit zu drosseln.«
    »Das Vibrieren des Schiffes ist seit heute Nachmittag stärker als sonst«, sagte Gladys, »demnach haben Sie die Geschwindigkeit sogar noch erhöht.«
    In den Augen von Smith blitzte Unwille auf.
    »Das Schiff hat die Geschwindigkeit, die es haben muss. Ich kann es beurteilen, schöne junge Lady, ich bin seit 30 Jahren auf dieser Route unterwegs.«
    Gladys gab sich einen Ruck. Die Sache war zu wichtig, um Rücksicht auf Konventionen zu nehmen.
    »Ich muss Ihnen widersprechen!«, sagte sie. »Die Temperaturen sind gefallen. Sie haben kein Recht, in einem Gebiet mit Eisgefahr so schnell zu fahren. Sie müssen die Geschwindigkeit reduzieren.«
    Am Tisch herrschte plötzlich Schweigen.
    »Junge Lady«, sagte der Kapitän. »Es gibt Temperaturänderungen, auch ohne dass Eisberge in der Nähe sind. Der kalte Labradorstrom fließt bei Neufundland südwärts quer durch die Routen der Atlantikschifffahrt, führt aber nicht notwendigerweise Eisberge mit sich. Kalte Winde blasen auch von Grönland, nicht nur von Eisfeldern.«
    Gladys ließ sich von dem Ton des Kapitäns nicht einschüchtern.
    »Es war nicht richtig, dass Sie die Eiswarnung Mr. Ismay übergeben haben, anstatt sie im Navigationsraum auszuhängen«, gab sie zurück.
    Der Kapitän, dem es ob ihrer für ihn unerwarteten Aufsässigkeit die Sprache verschlug, wandte sich, ohne etwas zu erwidern oder sich weiter etwas anmerken zu lassen, seinen Tischnachbarn zu, die den Disput mit angehört hatten.
    Gladys achtete nicht mehr darauf, was der Kapitän zu den anderen Gästen am Tisch sagte, aber ein wenig hatte sie mit ihren Bemerkungen wohl doch bewirkt, denn es vergingen nur wenige Minuten, bis Kapitän Smith seine Zigarre in einem Aschenbecher ausdrückte, einen kurzen Blick in die Runde warf und erklärte:
    »Ich werde auf der Kommandobrücke erwartet und muss mich nun leider verabschieden.« Sein Blick traf Gladys, als wollte er mit dem angekündigten Aufbruch den von ihr geäußerten Verdacht an seiner Fähigkeit und der Unangemessenheit seines Verhaltens Lügen strafen, dann erhob er sich, verbeugte sich leicht nach allen Seiten und verließ die Gesellschaft.
    Gladys wartete einen Moment, dann stand sie ihrerseits auf und verabschiedete sich. Sie ging in ihre Kabine, um sich umzuziehen und begab sich ins Café Parisien.
    Der Ball war für die anwesenden Gäste jüngeren Alters Anlass, in voller Kriegsbemalung aufzutauchen und zu zeigen, wer man war. Einige Damen waren in großer Toilette erschienen und zeigten ihren Schmuck. Manche der Herren trugen Smoking, weiße Hemden mit Fliegen, und andere Passagiere hatten ausgefallene Kostüme angelegt.
    Gladys setzte lieber auf ihre nackte Haut. Ihr makelloser Teint und das Ebenmaß ihrer Arme waren ihr schönster Schmuck und ließen die teure Seide und die Juwelen vieler anderer Frauen vergleichsweise fad aussehen. Einige andere junge Frauen bewiesen ebenfalls Mut und führten ihre neuen, freizügigen Kleider vor.
    Raubold setzte sich zu ihr, als er sie erblickte.
    »Wo haben Sie denn Ihren Liebsten, Mrs. Appleton?«
    »Er hat noch zu tun und kommt später nach, wie ich hoffe.«
    Die Kapelle spielte zum Tanz.
    »Kommen Sie, Mrs. Appleton«, sagte Raubold.
    Raubold war ein besserer Tänzer, als es seine äußere Erscheinung hatte vermuten lassen. Sonst machte er mit seiner gedrungenen Gestalt und den breiten Schultern einen eher schwerfälligen Eindruck, aber wenn er sich bewegte, trugen ihn seine Beine wie Flügel. Wie der Wind fegte er über das Tanzparkett, und sie hatten viel Spaß, wenn er sie herumwirbelte. Gladys tanzte ausgelassen, so wie sie es von den Londoner Vergnügungen kannte. Die Konventionen der besseren Gesellschaftskreise bekümmerten sie nicht, aber auch die übrigen Gäste hielten sich heute nicht so sehr daran, wie sie es bei sonstigen Anlässen auf der Titanic taten.
    Bald kamen andere Männer, und Raubold wurde abgeklatscht. Gladys war der augenfällige Liebling des Abends, und die Männer rissen sich darum, mit ihr zu tanzen. Die

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