Todesengel (Gesamtausgabe)
schauspielerisches Talent und wenn sie ihr vermeintliches Anliegen, das die Gruppe natürlich entschieden zurückweisen würde, ebenso überzeugend vortrug wie die frei erfundene Vergewaltigung, würde kein Kollege im LKA auf die Idee kommen, dass sie falsch mit ihm spielte.
Nach einer Viertelstunde versiegte Mirjams Redefluss und Debbie ließ die junge Frau ein wenig verschnaufen, erzählte, um die Zeit zu überbrücken, einen jiddischen Witz und batdie Polizistin dann, zu ihrem Anliegen zu kommen. Jetzt geht es um die Wurst, dachte Debbie und auch Mirjam schien sich der Bedeutung des Augenblicks bewusst zu sein, nestelte nervös an ihrem Rocksaum und brach dann so überzeugend in Tränen aus, dass kein Kommissar dieser Welt auf die Idee kommen würde, Ohrenzeuge einer Schmierenkomödie zusein. Die besorgten Freundinnen sprachen ihr gut zu, trösteten sie, so gut es ging und schließlich fasste sich Mirjam wieder und gab mit stockender Stimme zum Besten, was sie entsprechend den Weisungen ihres Vorgesetzten von der Jungfräulichen Rache wollte: „Ich habe, ich habe mir gedacht, also ich meine, der Name des Internetportals, da bin ich auf die Idee gekommen, es mit euch zu versuchen! Seit der Kindheit ermorde ich den Onkel in meinen Träumen, bin aber viel zu feige, ihn wirklich zu töten! Wenn Ihr aber die seid, für die ich euch halte, werdet Ihr mir vielleicht helfen, ihn endlich zur Strecke zu bringen! Auf eine Leiche mehr oder weniger kommt es doch nicht mehr an...“
Wieder begann Mirjam zu schluchzen, doch spendete ihr diesmal niemand Trost. Empört wandten sich die Frauen von ihr ab, beschimpften sie als mordgeiles Miststück, das keinen Deut besser als ihr Peiniger sei und schließlich war es Debbie, die Mirjam mit deren Einverständnis eine schallende Ohrfeige verpasste und sie aufforderte, das Lokal zu verlassen…
52.
Becker brauchte Tage, um über seine Enttäuschung wegzukommen. Er hatte, als er die Strategie entwickelte und die Kollegen von ihr überzeugte, alles auf eine Karte gesetzt, gehofft, mit dem Vorgehen gegen die Jungfräuliche Rache zum großen Befreiungsschlag auszuholen, doch war jetzt zu seinem Verdruss das Gegenteil eingetreten.
Er stand mit seinem Team wieder am Anfang der Ermittlungen, musste sich zudem um einen Perversen kümmern, der die Objekte seiner Begierde vornehmlich in Seniorenheimen fand und zu allem Überfluss würde Carmen nach dem Tod ihrer Mutter am Wochenende nach Berlin zurückkehren, sodass er sich weitere Rendezvous mit seiner Geliebten abschminken konnte. Aber war Mirjam noch seine Geliebte? Seit dem letzten Sonntag verhielt sie sich ihm gegenüber sehr reserviert, schien sie ihm nachzutragen, dass er sie beim Treffen im Kolibri in eine unmögliche Situation gebracht hatte und vielleicht war es unter diesen Umständen das Beste für alle, dass er künftig die Finger von ihr ließ. Diesem Gedanken hing er nach, als er lustlos die Posteingänge durchsah, doch dann elektrisierte ihn ein Schreiben des Rechtsanwalts Dr. Goldberg, der von der Selbsthilfegruppe Jungfräuliche Rache e.V. mit der Wahrnehmung ihrer Interessen betraut worden war und behauptete, seine Mandantinnen seien Opfer eines illegalen Lauschangriffs und weiterer polizeilicher Übergriffe geworden. Zudem habe eine Beamtin des LKA im Auftrage ihrer Behörde versucht, die Frauen zu einer schweren Straftat anzustiften, weshalb er um Unterzeichnung und Rücksendung der beigefügten Unterlassungserklärung bitte.
Becker wollte seinen Augen nicht trauen, sah sich schon als Angeklagter auf der Armesünderbank im Gericht sitzen und überlegte fieberhaft, wie er sich aus der misslichen Situation befreien konnte. Natürlich würde er den Justitiar des Hauses und auch Sauerbrei um Rat fragen, nichts ohne vorherige Abstimmung mit ihnen unternehmen, doch lag es letztlich an ihm, die Richtung vorzugeben. Sicher war, dass er nicht ohne Weiteres vor dem Anwalt kapitulieren durfte, dazu stand für ihn viel zu viel auf dem Spiel, aber er musste natürlich auch bedenken, welche Folgen es hatte, wenn er in seiner Antwort alles abstritt und Mirjam den schwarzen Peter zuschob. Am besten wäre es, Sauerbrei anzurufen, ging es ihm durch den Kopf und er wählte dessen Rufnummer, erreichte ihn zu seiner Verblüffung sofort und schilderte ihm den Sachverhalt, worauf der Oberstaatsanwalt ebenfalls seine Felle davon schwimmen sah und Becker mit dem Brief zu sich bestellte, um mit ihm das weitere Vorgehen abzustimmen.
Sauerbrei
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