Todesengel (Gesamtausgabe)
war und deckte ihn fortan so mit häuslicher Arbeit ein, dass er auf keine dummen Gedanken mehr kommen konnte. Sie redete ihm zudem seinen Plan aus, sich um Frankensteins Stelle zu bewerben und so machte zur Überraschung aller Ermittler Gunda Mohr das Rennen, die sich zuvor vergeblich um Sauerbreis Posten beworben hatte.
Die ehemalige Staatsanwältin setzte nach ihrem Dienstantritt, dem Becker mit gemischten Gefühlen entgegengesehen hatte, sofort neue Akzente und die erste heilige Kuh, die sie schlachtete, war die vom Hauptkommissar entwickelte und von Frankenstein nie in Frage gestellte Prioritätenliste der Sonderkommission. Auf ihr standen immer noch die Morde von Hamburg, Berlin und Eberswalde an oberster Stelle, obwohl das Team sich längst nicht mehr so intensiv um die Fälle kümmerte wie bis zur missglückten Attacke auf die Jungfräuliche Rache und als Becker, hierauf angesprochen, die Diskrepanz zwischen den von ihm gesetzten Prioritäten und der tatsächlichen Bearbeitungsdichte nicht erklären konnte, machte sie kurzen Prozess und kündigte zum Verdruss des Hauptkommissars an, künftig selbst zu entscheiden, welche Ermittlungen Vorrang haben sollten.
Noch mehr als dieser Machtverlust, den er als Affront betrachtete, wurmte Becker aber, dass Mohr ihn auch sonst spüren ließ, wer im Team das Sagen hatte und im Januar war er soweit, dass er am liebsten alles hingeschmissen, um seine Entlassung gebeten und das lukrative Angebot eines privaten Sicherheitsdienstes angenommen hätte...
54.
Der Winter hatte Berlin nach einigen Vorfrühlingstagen wieder fest im Griff und auch Mirjam blieb von den Unbilden der Witterung nicht verschont. Ausgerechnet an ihrem 30. Geburtstages hatte ihr Wagen, als sie ihn für die Heimfahrt starten wollte, gestreikt und so fuhr sie zum ersten Mal seit langem mit der S-Bahn, um von ihrer Dienstelle zurück in die Innenstadt zu gelangen.
Sie hatte schon die abenteuerlichsten Geschichten über dieses Verkehrsmittel gehört, von Glatzköpfen, die ihnen unliebsame Fahrgäste belästigten, zerkratzten Scheiben und aufgeschlitzten Polstern, aber das waren, wie sie jetzt aus eigenem Erleben wusste, nur Ammenmärchen, allenfalls Halbwahrheiten, saß sie doch unbehelligt in ihrem Abteil und döste vor sich hin, während der Schnee die an ihr vorbeiziehende Stadtlandschaft in ein gespenstisches Weiß hüllte.
Sie musste unwillkürlich an Becker denken, der sie mit fadenscheinigen Begründungen davongejagt hatte, erst als Liebhaberin und dann als Kollegin und aus ihrer Sicht alle Charakterschwächen vereinte, die Männer zu Eigen waren. Eigentlich durfte sie ihm seinen hemmungslosen Opportunismus nicht übel nehmen, hatte sie doch auch ein böses Spiel mit ihm getrieben, aber das wusste er damals noch nicht und deshalb gab es für ihn keine mildernden Umstände. Vielleicht würde er in einem Prozess, in dem sie dem Gericht vorsaß, mit dem Leben davonkommen, aber sein Glied verlieren wie Berger, Engholm und die anderen Schweine würde er allemal. Sie fragte sich, was die Schicksalsgenossinnen von der Jungfräulichen Rache jetzt wohl machten. Waren sie nach dem Treffen mit ihr für immer auseinander gegangen und gehörten jetzt zur anonymen Menge, die abgestumpft vor sich hin lebte, während Sittenstrolche ungestraft Hand an kleinen Mädchen legten?
Oder hatten sie den ihnen zugesteckten Kassiber zum Anlass genommen, um über ihre Irrtümer nachzudenken und es bei der Fürsorge für Opfer sexueller Gewalt zu belassen? An den tagelang in ihrer Scheide versteckt gehaltenen Zettel hatte sie seit der Zusammenkunft im Kolibri überhaupt nicht mehr gedacht und jetzt große Mühe, sich an den Wortlaut des für die Racheengel bestimmten Textes zu erinnern.
Sicher war nur, dass sie damals den Stand der polizeilichen Ermittlungen preisgegeben und das Stillschweigen über ihr Wissen an die Bedingung geknüpft hatte, dass Debbie und ihre Freundinnen von weiteren Akten der Selbstjustiz absahen. Dass sie den Freundinnen zugleich Sauerbrei zum Fraß vorgeworfen hatte, stand auf einem anderen Blatt, aber darüber wollte sie nicht mehr nachdenken. Schließlich war der Patenonkel, wie sie kürzlich von ihrer Mutter gehört hatte, bei bester Gesundheit und sie konnte beruhigt davon ausgehen, dass die Racheengel ihren Mordauftrag nicht sonderlich ernst genommen hatten.
Auf dem Bahnhof Alexanderplatz stieg sie um, fühlte sich in der überfüllten U-Bahn wie in einer Sardinenbüchse und war deshalb froh,
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