Todesengel
um wieviel Uhr David Wilson einen Termin bei ihm habe. »Um drei Uhr«, erwiderte Sharon. »Und wie spät ist es jetzt?« fragte er, während er seine Taschenuhr aus seiner Weste zog. »Es ist bereits Viertel nach drei«, antwortete sie. »Dann geht meine Uhr also doch richtig. Und Sie sagen, daß er noch nicht aufgetaucht ist?«
»Ganz genau, Mr. Sherwood.«
»Falls er noch kommen sollte, teilen Sie ihm bitte mit, daß er sich einen neuen Termin geben lassen muß«, sagte Sherwood. »Und bringen Sie mir bitte die Tagesordnung für die heutige Sitzung des Krankenhausvorstands.«
Sherwood nahm seinen Finger von der Sprechanlage. Es irritierte ihn, daß David Wilson nicht pünktlich gekommen war; immerhin hatte er selbst um das Gespräch gebeten. In Sherwoods Augen bedeutete ein solches Verhalten eine bewußte Brüskierung, denn Pünktlichkeit war in seinem Wertesystem eine der wichtigsten Tugenden.
Er griff zum Telefonhörer und wählte die Nummer von Harold Traynor. Bevor Sherwood sich mit den Krankenhausunterlagen beschäftigte, wollte er sich vergewissern, daß die Sitzung nicht vertagt worden war. Er konnte sich noch gut daran erinnern, daß 1981 einmal eine Sitzung ausgefallen war.
»Um Punkt sechs Uhr fangen wir an«, sagte Traynor. »Wollen wir zusammen zu Fuß zum Krankenhaus gehen? Es ist ein schöner Tag heute, und vor dem nächsten Sommer werden wir wohl nicht mehr allzu häufig mit einem solchen Wetter verwöhnt werden.«
»Von mir aus gerne. Am besten treffen wir uns vor der Bank«, schlug Sherwood vor. »Sie scheinen ja in bester Stimmung zu sein.«
»Ja, ich hatte heute einen guten Tag«, sagte Traynor. »Gerade vor einer Stunde habe ich erfahren, daß mein Erzfeind, Jeb Wiggins, kapituliert hat. Er wird jetzt doch für das Parkhaus stimmen. Wir können davon ausgehen, daß der Stadtrat uns gegen Ende des Monats grünes Licht geben wird.«
Sherwood grinste. Das war tatsächlich eine gute Nachricht. »Dann bereite ich wohl am besten schon mal die Anleihen vor.«
»Ja, auf jeden Fall«, pflichtete Traynor ihm bei. »Wir müssen den Bau so schnell wie möglich vorantreiben. Ich werde mich schleunigst um ein Bauunternehmen kümmern. Vielleicht gelingt es uns sogar, den Grundstein noch vor Einbruch des Winters zu legen.«
Sharon kam in das Büro ihres Chefs und brachte ihm die Tagesordnung.
»Es gibt noch ein paar gute Neuigkeiten«, fuhr Traynor fort. »Helen Beaton hat mich heute morgen angerufen, um mir mitzuteilen, daß die Zahlen im Augenblick viel besser aussehen, als wir angenommen hatten. Unsere düsteren Prognosen für Oktober haben sich ganz und gar nicht bestätigt.«
»In diesem Monat scheinen wir ja eine Glückssträhne zu haben«, bemerkte Sherwood.
»Also, das würde ich nun auch nicht gerade behaupten«, entgegnete Traynor. »Vor ein paar Minuten hat Helen mich nämlich noch einmal angerufen, um mir zu sagen, daß van Slyke schon seit einer ganzen Weile nicht mehr im Krankenhaus aufgekreuzt ist.«
»Und telefonisch hat er sich auch nicht gemeldet?« fragte Sherwood.
»Nein«, erwiderte Traynor. »Da er aber kein Telefon hat, wundert mich das nicht allzusehr. Ich werde nach der Sitzung mal bei ihm vorbeifahren, obwohl ich es hasse, sein Haus zu betreten. Man bekommt dort regelrechte Depressionen.«
Genauso unverhofft wie das Licht ausgeschaltet worden war, ging es auch wieder an. David hörte van Slyke die Kellertreppe herunterkommen. Seine schweren Schritte waren von einem klirrenden Geräusch begleitet; es klang so, als würden zwei Metallteile aneinanderschlagen. Kurz darauf hörte David ein Krachen; der Mann hatte offenbar etwas auf den Boden geworfen.
Nachdem van Slyke noch einmal nach oben gegangen und wieder zurückgekehrt war, vermutete David, daß er einen sehr schweren Gegenstand heruntergeschleppt hatte. Als er zum dritten Mal wiederkam und etwas fallen ließ, ging David der dumpfe Aufschlag durch Mark und Bein. Es klang beinahe so, als ob ein lebloser Körper auf der festgetretenen Erde aufgeschlagen war. David lief ein kalter Schauer über den Rücken.
Da er in seinem Verlies jetzt wieder etwas sehen konnte, überprüfte David noch einmal, ob es nicht doch eine Fluchtmöglichkeit gab. Aber es gab keine. Plötzlich hörte David, wie das Schloß an der Tür zu seinem Gefängnis geöffnet und der Riegel zur Seite geschoben wurde. David machte sich auf das Schlimmste gefaßt, als die Tür energisch aufgerissen wurde. Beim Anblick van Slykes stockte ihm der Atem.
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