Todesengel
Der Mann wirkte noch aufgelöster als vorher. Seine dichten, dunklen Haare lagen nicht mehr glatt am Kopf, sondern sie standen in alle Himmelsrichtungen ab; er sah beinahe so aus, als hätte man ihn elektrisch aufgeladen. Seine Pupillen waren immer noch stark erweitert, und sein ganzes Gesicht war mit Schweißperlen bedeckt. Sein grünes Arbeitshemd hatte er inzwischen gegen ein schmutziges T-Shirt getauscht, das über seinem Hosenbund schlabberte. David registrierte, wie kräftig van Slyke gebaut war. Die Möglichkeit, den Mann zu überwältigen, konnte er sich aus dem Kopf schlagen. Doch dann entdeckte David noch etwas Interessantes: Auf dem rechten Unterarm hatte van Slyke einen tätowierten weißköpfigen Seeadler, der die amerikanische Flagge hochhielt. Eine dünne, etwa zwölf Zentimeter lange Narbe hatte das Emblem stark ramponiert. Van Slyke hatte Dennis Hodges umgebracht! »Raus hier!« schrie van Slyke und fügte eine ganze Reihe von Kraftausdrücken hinzu. Dabei fuchtelte er so wild mit seiner Pistole herum, daß David die Knie weich wurden. Er hatte furchtbare Angst, daß van Slyke wieder anfangen würde, in der Gegend herumzuballern. David fügte sich dem Befehl seines gefährlichen Gegners und kam schnell aus dem Vorratskeller heraus. Dann ging er einen Schritt zur Seite und blieb neben van Slyke stehen, weil er ihn nicht aus den Augen lassen wollte. Wütend bedeutete van Slyke ihm, zu dem Heizofen weiterzugehen.
»Stehenbleiben!« brüllte van Slyke, als David sich etwa drei Meter vorwärtsbewegt hatte. Er zeigte auf den Boden. David sah nach unten. Vor seinen Füßen lagen eine Spitzhacke und eine Schaufel. Ganz in der Nähe befand sich auch der Abschnitt, der gerade frisch zubetoniert worden war.
»Ich will, daß Sie ein Loch graben«, schrie van Slyke. »Und zwar genau da, wo Sie jetzt stehen.« David wagte nicht, auch nur eine Sekunde lang zu zögern; er bückte sich und hob die Hacke auf. Während er sich wieder aufrichtete, überlegte er kurz, ob er das Gartengerät vielleicht als Waffe benutzen könnte, doch van Slyke hatte offenbar seine Gedanken gelesen. Er trat schnell einen Schritt zurück und war somit außer Reichweite. Die ganze Zeit hielt er die Pistole im Anschlag; seine Hand zitterte zwar stark, aber immerhin zielte er in Davids Richtung. Da er auf keinen Fall sein Leben riskieren wollte, erschien es David sinnvoller, van Slyke nicht anzugreifen. David entdeckte, daß auf dem Boden mehrere Säcke lagen, in denen sich Sand und Zement befand. Wahrscheinlich sind es diese Säcke gewesen, die beim Aufprall auf den Kellerboden vorhin das dumpfe Geräusch verursacht hatten, das ihm einen solchen Schrecken eingejagt hatte.
David holte mit der Hacke aus, doch zu seiner Überraschung bohrte sie sich nur zwei Zentimeter tief in den festgetretenen Boden. Er schlug noch mehrmals mit voller Wucht zu, aber er schaffte es nicht, besonders tief in den lehmigen Untergrund einzudringen. Um den aufgelockerten Boden abzutragen, ließ er die Hacke schließlich fallen und griff nach der Schaufel. Inzwischen war ihm absolut klar, was van Slyke von ihm wollte. Er sollte sich sein eigenes Grab schaufeln. David fragte sich, ob Calhoun wohl die gleiche Tortur hatte durchmachen müssen. Er wußte, daß es nur noch wenig Hoffnung für ihn gab: Er mußte van Slyke zum Reden bringen. »Wie tief soll ich denn graben?« fragte er, während er die Schaufel wieder gegen die Hacke austauschte.
»Ich will ein großes Loch sehen«, erwiderte van Slyke. »Ein Loch wie in einem Donut. Und zwar will ich ihn ganz haben. Ich will, daß meine Mutter mir den ganzen Donut gibt.«
David schluckte. Psychiatrie war während seines Medizinstudiums nicht gerade seine Stärke gewesen, doch selbst er konnte erkennen, daß van Slykes Äußerungen auf schwere Denkstörungen beziehungsweise auf eine »Lockerung der Assoziation« hinwiesen - ein Symptom für akute Schizophrenie.
»Hat Ihre Mutter Ihnen häufig Donuts gegeben?« fragte David. Er wußte nicht, was er sagen sollte, doch er wollte van Slyke unbedingt zum Weiterreden ermutigen. Van Slyke starrte David an, als wäre er völlig überrascht, ihn vor sich zu sehen. »Meine Mutter hat Selbstmord begangen«, sagte er. »Sie hat sich umgebracht.« Dann brach er in einen hysterischen Lachanfall aus. Im Geiste hakte David diesen Anfall als ein weiteres Symptom für Schizophrenie ab. Er erinnerte sich daran, daß ein derartiges Verhalten in harmloser Umschreibung als eine »affektive
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