Todesengel
fragte David ungläubig. »Mitten in meiner Sprechstunde?«
»Es wird nicht lange dauern«, erwiderte Kelley. »Aber ich muß Sie bitten, jetzt sofort in mein Büro zu kommen.« David legte langsam den Hörer auf die Gabel zurück. Obwohl er sich nichts hatte zuschulden kommen lassen, hatte er plötzlich ein flaues Gefühl im Magen und kam sich vor wie ein Teenager, der in das Büro des Schuldirektors bestellt wird.
Er teilte Susan mit, daß er zu Charles Kelley hinübergehe, und verließ die Praxis. Als er die CMV-Geschäftsstelle betrat, forderte die Empfangsdame ihn auf, sofort in Kelleys Büro zu gehen.
Kelley erhob sich von seinem Schreibtischstuhl. Wie beim letzten Mal erschien er David wie ein braungebrannter Riese. Doch dieses Mal verhielt sich Kelley anders. Von seiner überschwenglichen Art war nichts mehr zu spüren; er wirkte sehr ernst, beinahe mürrisch. Er machte David mit Ned Harper bekannt, einem dünnen, korrekt aussehenden Mann mit blasser Haut und Aknepickeln im Gesicht. David erschien er wie der Prototyp eines Bürokraten, der sein ganzes Leben lang in einem Büro eingeschlossen ist und Formulare ausfüllt. Nach den Begrüßungsformalitäten setzten sie sich. Kelley griff nach einem Bleistift und spielte damit herum. »Die statistische Auswertung für Ihr erstes Behandlungsquartal liegt uns vor«, sagte Kelley in einem düsteren Ton. »Und sie sieht nicht gut aus.«
David sah abwechselnd Kelley und Harper an und fühlte, wie er zusehends nervöser wurde.
»Sie arbeiten nicht effizient«, fuhr Kelley fort. »Wenn man sich ansieht, wie viele Patienten Sie pro Stunde behandeln, dann stellt sich heraus, daß Sie von allen bei der CMV unter Vertrag stehenden Ärzten mit am schlechtesten abschneiden. Sie nehmen sich offensichtlich viel zuviel Zeit für jeden einzelnen Patienten. Aber es kommt noch schlimmer: Betrachtet man nämlich die Anzahl der Laboruntersuchungen, die Sie pro Patient durchführen lassen, dann stehen Sie so ziemlich an der Spitze. Darüber hinaus überweisen Sie sehr viele Patienten an Fachärzte, die nicht für die CMV arbeiten, und mit dieser Vorgehensweise fallen Sie vollkommen aus dem Rahmen.«
»Ich wußte gar nicht, daß Sie solche Daten sammeln und auswerten«, murmelte David lahm. »Das ist noch lange nicht alles«, fuhr Kelley fort. »Viel zu viele von Ihren Patienten sind anstatt in Ihrer Praxis in der Notaufnahmestation des Städtischen Krankenhauses behandelt worden.«
»Dafür gibt es eine einfache Erklärung«, erwiderte David. »Meine Behandlungstermine sind immer für mehr als zwei Wochen im voraus ausgebucht. Wenn mich aber Leute mit akuten Problemen anrufen, die sofort behandelt werden müssen, dann schicke ich diese Patienten in die Notaufnahme.«
»Falsch!« raunzte Kelley. »Sie haben die Patienten nicht in die Notaufnahme zu schicken! Sie haben die Leute in Ihrer Praxis zu behandeln, es sei denn, ein Patient ist kurz davor abzukratzen!«
»Aber das würde meinen Terminplan doch völlig durcheinanderbringen«, rechtfertigte sich David. »Wenn ich mich zwischendurch auch noch selber um sämtliche Notfälle kümmern würde, dann käme ich ja gar nicht mehr dazu, die angemeldeten Patienten zu behandeln.«
»Das kann ich leider auch nicht ändern«, stellte Kelley fest. »Von mir aus können Sie Ihre sogenannten Notfälle auch so lange warten lassen, bis Sie alle angemeldeten Patienten behandelt haben. Es ist Ihre Sache, um wen Sie sich zuerst kümmern, aber denken Sie daran, daß Sie Ihre Patienten künftig nicht mehr in die Notaufnahme schicken!«
»Wofür haben wir denn dann eine Notaufnahmestation?« fragte David.
»Versuchen Sie nicht, mir auf die Tour zu kommen, Dr. Wilson«, erwiderte Kelley. »Sie wissen ganz genau, wofür es eine Notaufnahme gibt. Dort werden Notfälle behandelt, also Leute, bei denen es um Leben oder Tod geht. Aber da fällt mir noch etwas ein. Empfehlen Sie Ihren Patienten bloß nicht, sich einen Krankenwagen zu bestellen! Die CMV übernimmt die Kosten für einen Krankenwagen nämlich nur dann, wenn die Fahrt vorher bewilligt worden ist. Und eine Bewilligung wird grundsätzlich nur in lebensbedrohlichen Situationen erteilt.«
»Aber einige meiner Patienten leben allein«, erwiderte David. »Wenn sie krank werden…«
»Wollen wir die Sache doch nicht komplizierter machen als nötig«, unterbrach ihn Kelley. »Die CMV bietet nun mal keinen Fahr-Service. In Wirklichkeit ist das, was ich Ihnen sagen will, ganz einfach. Sie
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