Todesengel
Spezialisten, die in Frage kamen, waren nicht bei der CMV unter Vertrag.
Also verzichtete David auf den Rat eines Kollegen und nahm statt dessen ein Buch mit dem Titel Physicians’ Desk Reference aus dem Regal. Da er befürchtete, Marjorie habe eine Superinfektion mit gramnegativen Bakterien, suchte er nach einem Antibiotikum, das in diesem speziellen Fall die Erreger abtöten konnte. Schließlich entdeckte er einen Therapievorschlag und war zuversichtlich, daß er Marjorie würde helfen können. Nachdem David sämtliche Anweisungen ordnungsgemäß in die Patientenakte von Marjorie eingetragen und die Schwestern gebeten hatte, ihn sofort zu benachrichtigen, falls sich der Zustand seiner Patientin verschlechtern sollte, eilte er in den anderen Gebäudeteil, um mit seiner Sprechstunde zu beginnen.
An diesem Tag war Angela an der Reihe, die vereisten Gewebeschnitte aus der chirurgischen Abteilung zu untersuchen. Sie empfand diese Aufgabe immer als ausgesprochen nervenaufreibend, denn sie wußte, daß der jeweilige Patient so lange narkotisiert wurde, bis sie ihre Arbeit beendet hatte und mitteilen konnte, ob das entnommene Gewebe gut- oder bösartig war.
Die vereisten Gewebeproben wurden in einem kleinen Labor untersucht, das sich direkt neben dem Operationssaal befand. Da dieser Raum nur von einem versteckten Winkel aus zugänglich war, wurde man so gut wie nie bei der Arbeit gestört.
Angela war so in ihre Arbeit vertieft, daß sie gar nicht bemerkte, wie sich hinter ihr leise die Tür geöffnet hatte.
»Na, Schätzchen! Geht’s voran?«
Angela zuckte zusammen; ein Adrenalinschub jagte durch ihren Körper, und ihr Kopf schnellte nach oben. In ihren Schläfen hämmerte der Puls, als sie in das Gesicht von Dr. Wadley blickte, der direkt vor ihr stand. Sie haßte es, wenn jemand ›Schätzchen‹ zu ihr sagte; das durfte höchstens David. Genausowenig konnte sie es leiden, wenn sich jemand von hinten an sie heranschlich. »Irgendwelche Schwierigkeiten?« fragte Dr. Wadley. »Nein«, erwiderte Angela scharf. »Ich würde gerne einen Blick darauf werfen«, sagte Wadley, während er auf das Mikroskop zeigte. »Was für einen Schnitt untersuchen Sie gerade?«
Angela rückte zur Seite und berichtete in knappen Worten, womit sie gerade beschäftigt war. Sie fachsimpelten ein wenig in ihrem Pathologen-Jargon über den Gewebeschnitt unter dem Mikroskop, und sie waren sich einig, daß es sich bei dem Tumor um ein gutartiges Geschwür handelte - für den Patienten eine gute Nachricht.
»Ich möchte, daß Sie nachher in mein Büro kommen«, sagte Wadley und zwinkerte Angela dabei zu. Angela nickte und tat so, als ob sie das Augenzwinkern nicht bemerkt hätte. Sie drehte sich um und wollte sich gerade wieder hinsetzen, als sie spürte, wie Wadley ihr mit der Hand über den Po strich.
»Und arbeiten Sie nicht zuviel, Schätzchen!« rief er noch, während er den Raum verließ.
Diesmal zweifelte Angela nicht daran, daß Wadley sie absichtlich berührt hatte. Für ein paar Minuten blieb sie tatenlos in ihrem winzigen Labor sitzen; sie war so entrüstet und verwirrt, daß sie am ganzen Leibe zitterte. Was sollte sie bloß tun? Die Sache einfach auszusitzen oder gar zu ignorieren, kam jedenfalls nicht in Frage. Denn damit würde sie ihn ja geradezu einladen, sie weiter zu begrapschen. Angela kam zu dem Schluß, daß sie zwei Möglichkeiten hatte. Sie konnte mit Wadley selbst oder mit Michael Caldwell, dem Verwaltungschef, darüber sprechen. Doch dann fiel ihr auch noch Dr. Cantor ein, der Chef der medizinischen Abteilung. Vielleicht sollte sie besser zu ihm gehen.
Angela seufzte. Im Grunde hielt sie weder Caldwell noch Cantor für den richtigen Gesprächspartner, an den sich eine Frau wenden konnte, die sexuell belästigt worden war. Beide waren Macho-Typen, und Angela erinnerte sich noch gut an ihr erstes Zusammentreffen.
Angela dachte noch einmal darüber nach, ob sie Wadley vielleicht doch besser direkt ansprechen sollte, verwarf den Gedanken dann aber schnell wieder. Das plötzliche Dröhnen der Sprechanlage riß Angela aus ihren Überlegungen. »Dr. Wilson«, erklang die Stimme der Oberschwester. »Wir warten in Operationssaal 3 auf das Ergebnis der Biopsie.«
David hatte an diesem Vormittag noch größere Schwierigkeiten, sich auf die Probleme seiner Patienten zu konzentrieren als am Nachmittag zuvor. Er machte sich große Sorgen um Marjorie Kleber, deren Zustand sich zusehends verschlechterte.
Kurz vor
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