Todesengel
Mittag kümmerte sich David um seinen Leukämie-Patienten John Tarlow, der recht häufig in seine Sprechstunde kam. John hatte zwar keinen Termin vereinbart, doch als er morgens angerufen hatte, hatte David Susan angewiesen, ihn dazwischenzuschieben und ihn sozusagen als einen Notfall zu behandeln. Wäre John einen Tag früher gekommen, hätte David ihn in die Notaufnahme geschickt, doch nach der Unterredung mit Kelley fühlte er sich dazu verpflichtet, seinen Patienten selbst zu versorgen.
John ging es nicht gut. Er hatte am Vorabend rohe Meeresfrüchte gegessen und im Laufe der Nacht starke Magen-Darm-Beschwerden bekommen. Da er Durchfall hatte und sich ständig übergeben mußte, war sein Körper schon ganz ausgetrocknet; zudem litt er unter kolikartigen Bauchschmerzen.
David wies ihn vorsichtshalber ins Krankenhaus ein. Um die Ursache von Johns Beschwerden feststellen zu können, ließ er eine Reihe von Untersuchungen durchführen. Dann legte er eine Infusionskanüle, um John intravenös mit Flüssigkeit zu versorgen. Auf Antibiotika verzichtete David vorerst, weil er lieber erst einmal die Untersuchungsergebnisse abwarten wollte. Es konnte durchaus sein, daß John sich eine bakterielle Infektion zugezogen hatte, aber es bestand genausogut die Möglichkeit, daß es sich bei seinen Beschwerden nur um eine toxische Reaktion handelte, um eine Lebensmittelvergiftung also.
Harold Traynor bekam an diesem Morgen von seiner Sekretärin Colette eine schlechte Nachricht mitgeteilt. Es war kurz vor elf, als sie telefonisch darüber informiert wurde, daß der Stadtrat sich wieder einmal der Meinung von Jeb Wiggins angeschlossen hatte. Die Ratsmitglieder hatten endgültig gegen das neue Parkhaus gestimmt. Und da Harold schon alle Hebel hatte in Bewegung setzen müssen, damit das Thema überhaupt noch einmal auf die Tagesordnung gesetzt worden war, würde er auf eine nochmalige Abstimmung wohl mindestens bis zum nächsten Frühjahr warten müssen.
»Verdammt noch mal!« fluchte Harold. »Am liebsten würde ich Wiggins an seinem fetten Hals packen und so lange zudrücken, bis er blau wird!« Colette verließ diskret den Raum, während Harold nervös vor seinem Schreibtisch auf und ab ging. Es ärgerte ihn maßlos, daß die Stadt ihn bei der Leitung des Krankenhauses so wenig unterstützte. Er verstand einfach nicht, wie der Stadtrat derart kurzsichtige Entscheidungen treffen konnte. Schließlich war es doch offensichtlich, daß das Krankenhaus in der ganzen Stadt das wichtigste Unternehmen war. Und genauso offensichtlich war es, daß das Parkhaus dringend gebraucht wurde. Da Harold jetzt sowieso nicht mehr arbeiten konnte, nahm er seinen Hut und seinen Regenmantel vom Haken, schnappte sich einen Schirm und stürmte aus seinem Büro. Wenn schon kein Parkhaus gebaut werden sollte, dann wollte er sich wenigstens persönlich um die ordnungsgemäße Beleuchtung der Parkplätze kümmern. Er wollte auf keinen Fall riskieren, daß auf dem Krankenhausgelände noch mehr Frauen vergewaltigt wurden. Harold fand Werner van Slyke in dem fensterlosen Kabuff, das ihm als Büro diente. In van Slykes Gegenwart hatte Harold sich noch nie wohl gefühlt. Van Slyke war ein Einzelgänger; er sagte beinahe nie etwas und wirkte immer ein wenig ungepflegt. Schon seine äußere Statur hatte etwas Einschüchterndes: Er war mindestens zehn Zentimeter größer als Harold und wesentlich stämmiger; seine prallen Muskeln ließen vermuten, daß sein Hobby Gewichtheben war.
»Ich möchte mir mal die Beleuchtung auf den beiden Parkebenen ansehen«, sagte Harold. »Jetzt?« fragte van Slyke, ohne dabei seine Stimme zu heben, wie normale Menschen es tun würden, wenn sie eine Frage stellen. Jedes einzelne, lustlos klingende Wort, das er herausbrachte, ging Harold auf die Nerven. »Ich hab’ gerade ein bißchen Zeit«, erklärte Harold. »Deshalb will ich mich vergewissern, daß die Parkplätze jetzt ausreichend beleuchtet sind.«
Van Slyke zog sich eine gelbe Regenjacke an und verließ sein Büro. Dann marschierte er zur unteren Parkebene und zeigte Harold, ohne ein Wort zu sagen, jede einzelne Lampe.
Harold verkroch sich unter seinen Regenschirm und trottete hinter ihm her. Immer wenn van Slyke ihm eine weitere Lampe zeigte, nickte er. Während sie durch das Nadelbaumwäldchen gingen und die Holztreppe hinaufstiegen, die die beiden Parkebenen miteinander verband, fragte sich Harold, was van Slyke wohl tat, wenn er nicht arbeitete. Er hatte ihn noch
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