Todeserklärung
kam Esthers Tod dazwischen.«
Frau Klingbeil wartete Maries Reaktion nicht ab.
»Sie finden das auch eigenartig, nicht wahr?«
Sie schaute Marie lange ins Gesicht.
»Sie sind wunderschön«, sagte sie unvermittelt. »Als alte Frau darf ich Ihnen das sagen.«
Marie errötete.
»Doch, doch«, sagte die Alte.
»Sie haben ganz feine Gesichtszüge. Und die hübschen dunklen Augenbrauen, wunderschöne schwarze Haare – und die Locke auf der Stirn.« Sie wandte sich Knobel zu. »Und Sie, mein junger Mann, achten auf Ihr Gretchen ! Das ist ein Juwel!«
»Ich werde Sie hier wieder besuchen«, versprach Marie und umarmte die alte Frau.
Marie winkte ihr nach, als sie mit Stephan zum Aufzug ging. Sie fuhren schweigend hinunter, ließen das Auto auf dem Parkplatz stehen. Marie nahm ihren Rucksack vom Rücksitz und Hand in Hand gingen sie in den nahe gelegenen Wald, ließen den Theodor-Freywald-Weg rechts liegen, den er früher mit Lisa häufiger mit dem Fahrrad bis hinauf zur Hohensyburg erklommen hatte. Er lief mit Marie kreuz und quer, zwischendurch aßen sie Brötchen mit Honig und Käse und Knobel fand zu einer Ruhe, die einen ebenso eigentümlichen wie scharfen Gegensatz zu seinem gestrigen aufgewühlten Zustand bildete.
»Ich möchte von dir lernen«, sagte er schließlich.
»Du weißt doch, dass ich gerne lese«, antwortete sie verlegen.
»Mit Goethe erwischte mich Frau Klingbeil auf dem richtigen Fuß. Und was Herrn Gustaf Gründgens angeht, kannst du in der Biographie von Alfred Mühr nachlesen. Und wenn du interessiert bist, bleibt von dem Gelesenen ganz viel hängen.«
Sie verließen nach einem langen Spaziergang den Wald und kehrten vor Anbruch der Dunkelheit auf den Parkplatz vor dem Wohnstift Augustinum zurück.
»Du solltest jetzt mit Lisa reden«, schlug Marie vor.
»Die Dahmsfeldstraße ist ja nicht weit von hier. Wir sind vorhin dran vorbeigefahren.«
Sie verabschiedete sich mit einem Kuss.
»Ich nehme den Bus.«
12
Natürlich lag nichts näher, als jetzt in die Dahmsfeldstraße zu fahren und Lisas allzu berechtigter Aufforderung Wir müssen reden Folge zu leisten. Und natürlich lag emotional in diesem Moment nichts entfernter. Er hatte durch den Spaziergang zu einer Ruhe gefunden, die er sonst nur mit Marie in ihrer Wohnung genießen durfte. Die Enklave war gewissermaßen in die Welt hinausgetreten. Das Gespräch mit Frau Klingbeil war ein Gespräch wie mit der eigenen Großmutter gewesen. Er war Zuschauer geblieben und dennoch ganz dabei, hatte sich in die Vertrautheit zwischen Frau Klingbeil und Marie eingebunden gefühlt, die wie ein sprühendes Feuerwerk aus dem Nichts entsprungen war, oder besser gesagt, aus dem teuflischen Mephisto heraus, der seinem Wesen und seinen Absichten zuwider zwischen beiden Frauen etwas entzündet hatte, das weit über dieses Gespräch hinauswuchs. Sein Tag hatte in einer Wohnung im zweiten Stock eines Hauses an der Varziner Straße seinen Anfang genommen, begleitet vom klackernden Geräusch einer Etagenheizung und vom Restkater des übermäßigen Pinot-Grigio -Genusses vom Vortag, der zuletzt ein sinnloses Betrinken war. Heute Morgen ein Einkauf von alltäglichen Utensilien im Beisein seines türkischen Vermieters im REWE , eine Fahrt mit der U-Bahn von Huckarde in die Stadt, ein Frühstück mit Marie, ein geschwänzter Tag in der Kanzlei, keine Umsätze, keine Mandate, keine Telefonate, kein Dubrovnik . Und nach dem Besuch im Wohnstift Augustinum , dem Besuch bei einer alten Frau: Ein Gefühl wie neu geboren. Geburtshaus Augustinum . Und Maries Schönheit. Natürlich hatte Frau Klingbeil recht. Ihm fiel auf, dass er bislang das Wort Liebe gegenüber Marie noch nicht benutzt hatte.
Er parkte etwas unterhalb seines Hauses am Rand der Dahmsfeldstraße, nicht, wie früher üblich, in der Garageneinfahrt. Er klingelte, weil er sich scheute, den Haustürschlüssel zu benutzen, der, wie er juristisch formulieren würde, ›bereits seines ursprünglichen Zwecks entwidmet war‹. Lisa öffnete, Malin auf dem Arm, und kaum hatte er ein schüchternes Hallo über die Lippen gebracht, sah er in der Diele seinen Schwiegervater stehen.
»Junge, wir müssen reden«, begann der Schwiegervater.
Knobel nickte, folgte ihm ins Wohnzimmer und nahm, der Geste des Schwiegervaters folgend, auf der weißen Couchgarnitur Platz. Im Kamin knisterte Feuer, das erste Mal seit Fertigstellung des Hauses.
»Ich reiße dir nicht den Kopf ab, Junge«, sagte der
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