Todeserklärung
Sie, setzen Sie sich! Sie sind ja ein Geschenk!«
Knobel seufzte leise angesichts des zu erwartenden langen Gesprächs über Goethes Faust und Gründgens ’ Schauspielkunst, nicht zuletzt deshalb, weil er zu diesem Gespräch nichts weiter beitragen konnte. Er stand abseits wie ein Gegenstand, wagte nicht einmal, sich dazu zu setzen. Marie und Frau Klingbeil gaben einander Stichworte, die Figuren Faust und Gretchen wurden diskutiert, schließlich auch noch die Nebenfiguren Frosch und Brander als lustige Gesellen in Auerbachs Keller .
»Da waren doch noch mehr!«, rief Frau Klingbeil und fuchtelte erregt mit dem Gehstock.
» Siebel «, fiel Marie ein, »und Altmayer «.
»Ja!«
Die Alte juchzte und sagte ein weiteres Mal:
»Dass Sie das alles wissen!«
Marie gelang der Übergang.
»Sebastian ist ein Mephisto ?«, fragte sie.
Das Reden über den geliebten Faust hatte Frau Klingbeil gegen das Menschlein Sebastian Pakulla, wie sie ihn nannte, immunisiert. Goethes Meisterwerk war zu rein und zu gewaltig, zu sehr mit ihrer spannendsten und schönsten Lebenszeit verbunden, als dass sie die aus ihrer Sicht armselige Figur des Sebastian Pakulla wirklich noch verärgern konnte.
»Aber ja«, sagte sie, »so gewunden und unehrlich, wie er sich gibt, so berechnend …«
»Wenn Sie es sagen, muss es einen ganz triftigen Grund geben«, vermutete Marie.
»Ich kenne Sie erst seit ein paar Minuten und muss bekennen, selten einen so tiefgründigen Menschen getroffen zu haben.«
Knobel verdrehte die Augen, aber ein Blick auf Marie verriet ihm, dass sie nicht inszenierte. Sie hatte ein Band zur alten Frau Klingbeil geknüpft, und es war ihr ernst damit.
»Sie wissen ja, dass Esther ein Vermögen hinterlassen hat«, klagte Frau Klingbeil, »und ihre Neffen wussten das natürlich auch. Der eine wohnt irgendwo in Hessen …«
»Richtig, Gregor wohnt in Limburg«, unterbrach Marie.
»Ja. So ist es wohl. Dass der nicht einfach so vorbeikommen konnte, ist mir klar. Der ist beruflich auch sehr eingespannt. Immerhin rief er regelmäßig an. Aber der andere, Sebastian also, wohnt in Dortmund und kam nicht ein einziges Mal vorbei. Dabei hätte er doch Zeit gehabt. Stattdessen hat er nur mit Esther telefoniert. Und stellen Sie sich vor: Sie musste ihn sogar anrufen, nicht umgekehrt. Geizig wie sonst was. Jeden Samstag um 15 Uhr bat Esther jemanden vom Pflegepersonal, seine Nummer zu wählen. Sie wissen, dass sie blind war. Also konnte sie nicht selbst wählen. Aber dass sie jemanden von der Pflege bitten musste, ihr zu helfen, hatte auch einen anderen Grund: So konnte sie immer zeigen, dass sie noch Kontakt nach draußen hatte. So sind sie, meine beiden , sagte sie oft, der eine ruft immer an und der andere wird immer angerufen .«
»Kam Esther van Beek das nicht merkwürdig vor?«
»Sollte es eigentlich!«, bekräftigte Frau Klingbeil, »aber Sebastian hat ihr erzählt, samstags arbeite er immer an seinen Aufträgen für irgendwelche Galerien, da sei er zu Hause. Und Esther solle ihn anrufen, wenn sie Zeit habe. Es solle nur immer um etwa 15 Uhr sein. Darauf wolle er sich einrichten. Aber er wolle eben nicht von sich aus anrufen. Weil er doch nicht wisse, ob er ungelegen anrufe. Er meinte, sie könne gerade auf der Toilette sein oder anderweitigen Besuch haben.«
Frau Klingbeil schnaubte verächtlich.
»Glaubte Esther, dass er die Wahrheit sagte?«
»Erstaunlicherweise ja. Sie liebte Sebastian über alles, mehr als seinen Bruder Gregor.«
»Woraus schließen Sie das?«
»Wenn Esther von ihren beiden erzählte, sprach sie meistens dennoch nur von Sebastian«, erinnerte sie sich.
»Ihre Augen leuchteten, wenn sie von ihm sprach. Einmal sagte sie: Wie er ist und redet: Da erkenne ich voll und ganz meinen Bruder .«
»Also den Vater von Sebastian und Gregor«, vergewisserte sich Marie. Sie beobachtete Frau Klingbeil und insistierte behutsam:
»Warum hassen Sie Sebastian so, dass Sie ihn als Mephisto bezeichnen?«
»Ach, ja. Das können Sie bis jetzt noch nicht verstehen. Ich rede gern und viel, und das insbesondere, wenn man so einen netten Menschen wie Sie trifft und nicht über das Fernsehprogramm, Krankheiten oder über den Tod reden muss. Das sind nämlich die interessanten Dinge hier. Junge Menschen wie Sie würden sagen: Die Top-Hits dieses Hauses.«
Frau Klingbeil kicherte.
»Wir könnten uns bestimmt einmal für einen Goethe-Nachmittag treffen«, versprach Marie und Knobel sah ihr an, dass es ihr damit ernst war.
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