Todeserklärung
Frau Klingbeil erzitterte vor Freude, und Marie streichelte sanft ihre faltige Hand.
»Ja, Kindchen, warum ist der Basti ein Mephisto ? Es gibt ein Ereignis, das ihn demaskiert hat. Esther hatte fünf oder sechs Wochen vor ihrem Tod einen leichten Schlaganfall. An einem Samstagvormittag. Für die Ärzte nichts Bedrohliches, vielleicht eher etwas Normales, aber Esther spürte ihr nahendes Ende. Und wenn ein alter Mensch sagt, dass er bald stirbt, dann meint er es so, und er weiß es auch. Und wenn die Ärzte und Schwestern und alle anderen hier im Hause sagen, dass es nicht so sei, lügen sie. Sie wissen es genauso. Vor dem Tod gibt es eine Ernsthaftigkeit, die man nicht missdeuten kann. Esther wusste es, und sie erkannte an ihrem leichten Schlaganfall, dass der Tod an ihre Tür geklopft und bereits einen Fuß in den Türspalt gesetzt hatte. Sie ließ nach ihren Neffen telefonieren. Man rief Gregor in Hessen an, aber dort meldete sich nur ein Anrufbeantworter. Dann rief man Sebastian an und hatte ihn auch direkt am Telefon. Er solle nun kommen, sagte man ihm. Tante Esther gehe es schlecht und vielleicht sterbe sie bald. Es begannen unwürdige Diskussionen. Sebastian erwiderte, er grundiere gerade Bilder. Als sich Schwester Agathe, sie telefonierte mit ihm, mit seinen Ausflüchten nicht zufrieden gab, trumpfte er damit auf, dass er sich beim Sport eine Meniskusverletzung zugezogen habe und beim besten Willen nicht kommen könne. Letztlich half ihm auch diese Ausrede nicht. Die Schwester befahl ihn regelrecht hierher.«
»Haben Sie das Gespräch selbst mitgehört?«
»Ja. Schwester Agathe telefonierte von meinem Zimmer aus, weil Esther mir vor geraumer Zeit die Telefonnummern von Gregor und Sebastian gegeben hatte, damit ich notfalls die beiden Brüder erreichen konnte. Die Nummern waren natürlich auch beim Personal hier im Haus hinterlegt, aber Schwester Agathe rief jedenfalls von meinem Zimmer aus Sebastian an.«
»Und? Kam Sebastian?«
»Ja, er kam – und zwar zu mir !«
»Zu Ihnen?«, fragte Marie ungläubig.
»Ja, er kam am Abend, es war lange nach dem Abendessen. Es klopfte an meine Tür und herein kam eine humpelnde Gestalt, die sich als Sebastian Pakulla vorstellte. Und bevor er etwas sagen konnte, reichte er mir zwei Blumensträuße. Einer für Tantchen, einer für Sie , sagte er dabei. Er setzte sich auf einen Stuhl, ohne dass ich ihm einen Platz angeboten hatte. Seine Finger, das sah ich, waren mit Farbe verschmiert. Es sei ein Unglückstag, jammerte er. Er sei, als er heute Morgen zum Joggen gehen wollte, unglücklich im Treppenhaus gestürzt und habe sich dabei eine Meniskusverletzung zugezogen, die sogar notärztlich behandelt worden sei. Er könne vor Schmerzen kaum gehen und wolle nun mit den Blumensträußen, die er noch schnell gekauft habe, ein Zeichen setzen. Er könne jetzt nicht zu Esther gehen, wo er so sehr von seinen körperlichen Schmerzen geplagt werde, dass er sich auf nichts anderes konzentrieren könne. Er wisse aus den vielen Telefonaten mit Esther, dass ich ihre Vertraute sei und deshalb sei er zu mir gekommen.«
»Sie glaubten ihm kein Wort?«
»Ach, Kindchen! Die 5 oder 10 Minuten, die er bei mir verbracht hat, hätte er doch bei Esther zubringen und ihre Hand halten sollen. Finden Sie nicht? Da braucht es keine Worte, es geht einfach nur darum, da zu sein. Das ist doch das, was die meisten hier brauchen und was gerade Esther in dieser Situation bestimmt gut getan hätte. Und im Übrigen: Wenn er wirklich nicht laufen konnte, hätte er sich den Gang zum Blumenladen doch bestimmt erspart. Der war doch überflüssig. Auf die Blumen kam es doch gar nicht an.«
»Ab diesem Zeitpunkt …«
»… war er bei mir unten durch«, vollendete Frau Klingbeil. »Spätestens ab diesem Zeitpunkt.«
»Und Esther?«
»Esther berappelte sich wieder etwas, und als sie einigermaßen hergestellt war, habe ich ihr von Sebastians Besuch erzählt, natürlich so neutral wie möglich und ohne jede schlechte Anmerkung über ihren Lieblingsneffen. Den Blumenstrauß, der für Esther bestimmt war, habe ich behalten und stattdessen für Esther einen drei Mal so großen gekauft und ihn ihr als Sebastians Geschenk gegeben. Ja, sie war gerührt und weinte vor Freude aus ihren blinden Augen.«
»Kam er später noch mal?«
»Nein, er kam nie wieder. In späteren Telefonaten ließ er wissen, dass sein Treppensturz ihm so zugesetzt habe, dass er auf Monate nicht mehr als ein paar Meter laufen könne. Dann
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