Todeserklärung
gern ausgesprochen hätte: Dass er Lisa immer gemocht hatte und heute keinen Deut weniger mochte als früher. Dass er ihren Körper begehrt und dieses Begehren mit Liebe verwechselt hatte, dass er auch heute noch ihren Körper begehrte, ohne dass sein Gefühl gewachsen war. Dass er mit Lisa über juristische Konstruktionen wie den ›aberratio ictus‹ und den ›error in obiecto‹ länger und intensiver diskutieren konnte als über das, was für sie beide im Leben wirklich wichtig war.
»Mein Sohn!«, hob der Schwiegervater wieder an, »all das wäre ja noch zu verstehen, wenn eine Frau im Spiel wäre.«
Knobel glotzte dumpf in den Grand Cru , schwenkte das Glas, bis der Rotwein zentrifugierend das Glas zu verlassen drohte und antwortete:
»Es ist ja eine Frau im Spiel.«
Lisa kreischte in diesem Moment laut auf, sodass Malin ebenfalls zu schreien begann.
»Du bist ein Hurensohn!«, stellte der Schwiegervater mit eigentümlicher Zufriedenheit fest und kündigte unheilvoll an:
»Das wird Folgen für dich haben!«
Knobel konnte das Gespräch nicht vor diese Aussage zurückdrehen und wollte es auch nicht. Hätte es etwas genutzt, mühsam zu erklären, dass Marie mit seiner Trennung von Lisa nichts zu tun hatte, dass Marie Lisa nicht verdrängt, sondern nur einen Platz eingenommen, den Lisa nie ausgefüllt hatte?
»Wie konntest du uns das antun?«, schrie Lisa, das Wohnzimmer mit der weinenden Malin verlassend, und ahnte dabei nicht, dass Knobel sich nur unter der Leitung ihres moderierenden Vaters zu einem Verhalten hatte hinreißen lassen, das seiner menschlichen Achtung gegen-über Lisa nicht im Ansatz entsprach. Aber wie sollte man miteinander und zueinander reden, wenn kein Terrain mehr vorhanden war, auf dem man sich voller Anstand hätte begegnen können?
Lisa verschwand mit Malin in der oberen Etage, und Knobel hörte für Momente noch Lisas und Malins Schluchzen, und ihm war klar, dass er auch Malin für eine Zeit das letzte Mal gesehen hatte.
Der Schwiegervater schien zu seiner Beherrschung zurückgefunden zu haben.
»Lass uns reden, Stephan! Wenn nicht heute, wann dann?«, fragte er und schenkte Grand Cru nach.
»Du hast also eine bitch. Seit wann?«
»Eine was?«
»Eine bitch. Eine Nutte, wenn man so will.«
»Sie ist keine Nutte, Vater«, erwiderte er, erschrocken über den Begriff Nutte und noch erschrockener darüber, diesen ihm stets zuwider gebliebenen Mann gerade mit Vater angeredet zu haben.
»Ist sie gut? Komm, sag schon!«
Der Schwiegervater zwinkerte mit den Augen, es war ein kaltes Blitzen. »Manchmal braucht ein Mann so was!«, wusste er.
»Alle brauchen so was zwischendurch! Einmal Stemmen ohne Hemmen!«, grinste er. »Aber nur auf Zeit. Bitch verdauen und auf das Heim vertrauen, oder? Stephan, so ist es doch?!«
Er lockerte seine Krawatte. »Wir sind unter uns, Stephan. Denk nach: Es ist so, wie ich sage! Sag was! Es geht um unsere Familie! – Titten schmieren keine Schnitten , sage ich immer.«
Nein, so etwas sagte er nicht immer. So etwas sagte er nie. Was er immer sagte, war etwas anderes: Dass er seinen Weg immer konsequent verfolgt und alles richtig gemacht habe. Redlich in seinen Geschäftspraktiken und in der Sache hart. Dass er sich an Werten orientiere, die Bestand haben. Dass sich die Moral durchsetze und man als Rechtsanwalt der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfe. Diese und ähnliche immer wiederkehrenden, beinahe gebetartig beschworenen Sätze hatten Stephan sich frühzeitig für den Anwaltsberuf entscheiden lassen. Nun wirkten die Krawatte seines Schwiegervaters, das weiße Hemd und die graue Anzughose wie Requisiten.
Das streng gescheitelte Haar des Schwiegervaters glänzte verschwitzt, sein Gesicht war zornig rot und statt der wohlfeilen Moralsätze stieß es Schmutzworte und alberne Reime aus, erinnerte an Löffke, der sich gelegentlich zu ähnlichen Launen hinreißen ließ: ›104 kämpft wie ein Stier, 102 bleibt von Arbeit frei‹.
Die Frage war, ob die bisher unbekannte Seite des Schwiegervaters wirklich eine andere war oder nur jene Moral inhaltlich konturierte, die sich hinter den Programmsätzen verbarg. Nachdem sich Lisas Mutter kurz nach ihrer Geburt von ihrem Vater getrennt hatte, waren Frauen im Leben des Schwiegervaters offiziell kein Thema gewesen. Stephan hatte sich darüber nie gewundert. Ganz im Gegenteil: In die nüchterne Sachlichkeit des stets geschäftig wirkenden Schwiegervaters passte kein Lebewesen, welches auch nur einen kleinen
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