Todeserklärung
›Todeserklärungsverfahren‹ hinaus.«
»Da gibt es sehr lange Fristen«, erklärte Knobel, und er überflog den Gesetzestext und zitierte § 3 Absatz 1:
Die ›Todeserklärung‹ ist zulässig, wenn seit dem Ende des Jahres, in dem der Verschollene nach den vorhandenen Nachrichten noch gelebt hat, 10 Jahre oder, wenn der Verschollene zur Zeit der ›Todeserklärung‹ das 80. Lebensjahr vollendet hätte, 5 Jahre verstrichen sind. – Also mindestens 10 Jahre, Herr Pakulla!«
»Wir werden also noch lange miteinander zu tun haben.«
Gregor Pakulla stand auf und sah auf die Uhr.
»Mein Zug fährt in 20 Minuten. Es gibt nur wenige ICE-Züge am Tag, die von Dortmund aus fahren und in Limburg halten. Montabaur und Limburg werden von den meisten Zügen ohne Halt bis Frankfurt-Flughafen durchfahren. Also, nichts für ungut, danke für die Zeit, die Sie mir geschenkt haben, vielmehr die Zeit, die ich bereits teuer bevorschusst habe.«
Der Mandant lächelte verschmitzt. »Ich denke, Herr Knobel, wir sollten uns auf dieses ›Todeserklärungsverfahren‹ einstellen, wenn die Vermisstenanzeige keine neuen Erkenntnisse bringt. Auf die Zeitungsanzeigen hat sich niemand mehr gemeldet.«
Pakulla stand auf, reichte Knobel die Hand und eilte hinaus.
21
»Er gibt uns die Richtung vor«, stellte Marie fest, als Knobel ihr von seinem Gespräch mit Gregor Pakulla berichtet hatte. Sie saßen in ihrem Wohnzimmer, auf dem verschlissenen Teppichboden lagen Bücher und Ordner. Knobels Blicke irrten durch die ungewohnte Unordnung.
»Vorbereitungen für eine Seminararbeit«, erklärte sie. »Thema: Das Prinzip der Spiegelung in Goethes Faust .«
»Aha. Und Frau Klingbeil wird Mitautorin?«
Marie lächelte. »Ich weiß nicht, ob sie zu dem Thema etwas sagen könnte. Aber es macht Spaß, mit ihr zu reden. Sie wirkt doch gleich Jahre jünger, wenn man mit ihr über solche Dinge spricht.«
»Eine soziale Aufgabe also?«
»Ein Blick aus anderer Perspektive. Mich interessiert ihr Lebensrückblick. Es geht nicht so sehr um Goethe . Der ist vielleicht ein Gesprächsbindeglied. Aber in ihr spiegelt sich ein ganzes Leben. Und es gibt, glaube ich, nur wenige alte Menschen, die diesen Einblick zulassen, ohne dass sich der Altersunterschied dazwischenstellt. Verstehst du, was ich meine? Ich fühle mich ihr ähnlich, ohne dass ich das im Einzelnen begründen könnte. Sie kann auf das Leben aus einer anderen Perspektive schauen, ohne dass die gelegentlichen Gespräche zu mehr verpflichten.«
Knobel konnte ihre Worte nicht recht nachvollziehen, und sie sah es ihm an.
»Sagen wir es so: Wenn ich Frau Klingbeil besuche, besuche ich keine alte Frau in einem Wohnstift, und wenn ich gehe, tue ich es nicht in dem Gefühl, einen Besuch absolviert zu haben. Frau Klingbeil schaut auf ihr Leben zurück und ich auf ein hoffentlich langes Leben nach vorne. Aber wir treffen uns trotzdem auf einer Ebene. Und das finde ich spannend.«
Knobel staunte darüber, welchen Eindruck Frau Klingbeil bei Marie hinterlassen hatte. Er hatte sich dem Gespräch mit der alten Frau im Wohnstift entzogen, weil er bei dem Thema Goethe nicht mitreden konnte. Knobel entzog sich stets, wenn er fürchtete, nicht mithalten zu können. Er blieb auf Distanz, wenn er nichts beizutragen wusste. Marie lehrte ihn, Nähe aus Lust zu suchen und dadurch wissender zu werden.
»Dein Mandant hat uns eine neue Perspektive vorgegeben«, fuhr sie fort und knüpfte an den Beginn ihres Gesprächs an.
»Wieso? Wir suchen noch immer Sebastian Pakulla.«
»Richtig. Aber bislang suchten wir den lebenden Sebastian Pakulla. Unser Auftrag ist nunmehr die Suche nach dem toten Sebastian Pakulla. Das ist zumindest der Auftrag deines Mandanten. Und wenn du an alle Gespräche mit Gregor Pakulla zurückdenkst, ging es unausgesprochen stets um diesen Punkt. Aber wir sind ganz selbstverständlich davon ausgegangen, Sebastian lebend zu finden, weil er ja für die Erbauseinandersetzung gebraucht wird. Dein Mandant hingegen hat sich für die Ergebnisse der Spuren des lebenden Sebastian Pakulla nie wirklich interessiert! Erinnere dich nur: Du hattest ihm mitgeteilt, Sebastians Adresse herausgefunden zu haben, und Gregor Pakulla hat nicht einmal nachgefragt! Er ist doch gebürtiger Dortmunder! Er hätte mit der Adresse Adlerstraße etwas anzufangen gewusst! Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr meine ich, dass aus diesen unterschiedlichen Perspektiven auch das von dir so beschriebene Missverhältnis in dem
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