Todeserklärung
Mandat begründet ist, das du selbst nicht genau greifen kannst: Aus unserer bisherigen Sicht (wir suchen den lebenden Sebastian) wirken die Beauftragung eurer Kanzlei unnötig und der enorme Honorarvorschuss unangemessen. Ebenso erscheinen uns die Zeitungsartikel nicht nachvollziehbar, weil wir immer Hinweise darauf gefunden haben, dass Sebastian noch lebt. Derzeit nicht hier in Dortmund, aber irgendwo und stets mit der Perspektive, dass er zurückkehren wird. Wir haben Sebastians Abwesenheit aus dem Blickwinkel eines Herrn Theodoridis beleuchtet. Dein Mandant hat sich hingegen von Anfang an auf andere Fallkonstellationen eingerichtet und dir praktisch erst jetzt den Auftrag inhaltlich benannt: Ein ›Todeserklärungsverfahren‹! Jetzt macht die Beauftragung eurer Kanzlei Sinn, ebenso der Zeitungsartikel, der erhebliche Honorarvorschuss, um eure Kanzlei bei Laune zu halten, nämlich bei der Arbeit an einem Fall, den Gregor Pakulla zu Beginn selbst nicht als Fall für einen Anwalt bezeichnet hat.«
»Aber er bräuchte für ein ›Todeserklärungsverfahren‹ doch gar keinen Anwalt«, entgegnete Knobel. »Er ist doch nach dem Tod von Esther van Beek schon ein paar Mal beim Nachlassgericht gewesen. Jeder Rechtspfleger hätte ihm das erklären können! Außerdem hat er offensichtlich Rechtskenntnisse! Denk nur an die von ihm benutzten Begriffe der Kommorienten und Todeserklärungsverfahren ! Gregor Pakulla braucht diesen Aufwand nicht, wenn es ihm wirklich um ein Verfahren nach dem Verschollenheitsgesetz geht.«
»Doch«, erwiderte Marie. »Er braucht diesen Aufwand, um das Verschollensein seines Bruders, wenn man so will, mit Leben zu füllen.«
Knobel lächelte über ihr Wortspiel.
»Wenn ich dieses Verschollenheitsgesetz richtig verstehe, kann jemand nur für tot erklärt werden, wenn er verschollen ist. Und das setzt voraus, dass man alle Anstrengungen unternommen hat, ihn zu finden. Man kann sozusagen nur dann jemanden rechtlich als tot betrachten, wenn man ihn unter den Lebenden vergeblich gesucht hat. Und das ist unser Auftrag, Stephan! Nur, dass wir Sebastian Pakulla bislang wirklich unter den Lebenden gesucht haben und dein Mandant unsere Tätigkeit von Anfang an in den übergeordneten Zusammenhang, ›Todeserklärungsverfahren‹, eingebettet hat. In diesem Zusammenhang spielt die Beauftragung der Kanzlei ebenso eine Rolle wie die Zeitungsartikel und jetzt die Vermisstenanzeige.«
»Aber das würde ja bedeuten …«, hob Knobel an.
»… dass dein Mandant weiß, dass sein Bruder tot ist oder fest davon ausgeht, dass es so ist«, vollendete sie.
»Denn sonst hätte er die Sache ja anders eingefädelt. Wenn er uns nicht glauben machen wollte, dass Sebastian noch lebt, hätte er sich offen von vornherein um ein ›Todeserklärungsverfahren‹ bemühen können und müssen.«
Knobel stand auf und ging an Maries Computer, klickte sich ins Internet, rief eine Suchmaschine auf und gab den Begriff Verschollenheitsgesetz ein. Kurze Zeit später lag ihnen der Gesetzestext vor.
»Ich dachte es mir doch!«, murmelte er.
»Was?«
»Hier! § 1 Absatz 1. Das ist die Textstelle, die ich Gregor Pakulla vorgelesen habe. Dann folgt § 1 Absatz 2:
Verschollen ist nicht, wessen Tod nach den Umständen nicht zweifelhaft ist . Das würde bedeuten: Wenn Gregor Pakulla wirklich weiß, dass sein Bruder tot ist, wäre das ›Todeserklärungsverfahren‹ gar nicht zulässig!«
»Wenn das alles so ist, wie wir vermuten«, griff Marie seinen Gedankengang auf, »dann will er auf ein ›Todeserklärungsverfahren‹ hinaus, obwohl der Bruder nicht verschollen ist. Wenn er weiß, dass er tot ist, macht das nur Sinn, wenn er ihn selbst umgebracht hat.«
»Wir gleiten in wilde Spekulationen ab, Marie! Ich habe von Anfang an gesagt, dass ich Gregor Pakulla nicht sonderlich mag. Er ist habgierig und will deshalb unbedingt an Esthers Erbe. Aber das ist in der Konsequenz nicht verboten. Denk nur daran, wie lange es nach dem Gesetz dauert, bis jemand für tot erklärt wird. Pakulla müsste mindestens 10 Jahre warten, bis er die Erbauseinandersetzung weiter betreiben kann. Wenn Gregor Pakulla weiß, dass sein Bruder tot ist, wäre ein ›Todeserklärungsverfahren‹ von allem anderen abgesehen vor dem Hintergrund seiner Gier nach Esthers Erbe ja geradezu kontraproduktiv!«
»Eben!«, erwiderte sie. »Das Ganze macht nur Sinn, wenn er über das ›Todeserklärungsverfahren‹ aus einer Geschichte herauswill, in die er selbst verstrickt
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